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Schock

Titel: Schock
Autoren: Hunter Evan
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einfuhren. Er konnte sich vorstellen, fast hören, wie auf dem Bahnsteig ein Betrunkener im Schlaf murmelte, ein junges Paar hinter einem der Pfeiler flüsterte, sie mit verschmiertem Lippenstift, er mit wirrem Haar. In seiner Vorstellung konnte er die Stadt durchstreifen, jede ihrer Ecken umdrehen, er sah ihre Achselhöhlen und ihre Schenkelfuge, er konnte ihren Nabel, ihre Kehle küssen, seine Hände tief in ihr schwammigheißes Innere stoßen und wieder herausziehen, stinkend nach Honig und Blut. Er konnte sie lieben und hassen. Er hörte, wie die Schlepper auf dem Hudson, Tausende von Meilen jenseits der Stadt, ihren heiseren Schrei ausstießen, er fühlte den Dunst, der vom Fluss aufstieg, wie ein Schleier unter der George-Washington-Brücke hängend, steigend und steigend; man sah die Palisades am anderen Ufer. Wie oft hatte er auf jener Achterbahn aufgeschrien? Wie oft hatte er die Plakate jenes Vergnügungsparks betrachtet, ein Mädchen im Badeanzug am Rand des Beckens, und gewußt, daß nun wirklich der Sommer begann? Wie oft hatte er die geheimnisvollen Stufen betreten, Stufen der Azteken, Mayas, Apachen, die zu Washington Heights hinaufführten; wie viele Mädchen hatte er im Poe Park geküßt nahe der Orchestermuschel, während Bobby Sherwood ›Elk's Parade‹ spielte und die Lichter der Fordham Road in der Ferne tanzten; wie viele Röcke hatte er am Ufer des Bronx River gehoben, wo die Weiden über dem Wasser hingen und Lichter sich trübe in der Schwärze spiegelten? Oh, er kannte diese Stadt; er liebte diese Stadt und er hasste sie.
    Er erinnerte sich …
    Er erinnerte sich – und er nährte diese Erinnerung mit aller Behutsamkeit, voller Angst, sie könne völlig schwinden und ihn verloren zurücklassen. Fahrräder, Fahrräder auf einem stillen Sommerpfad, einem Pfad, der sich am Ufer des Flusses wand. Er erinnerte sich, wie ihr Rock flatterte, während sie die Pedale trat, dunkles Haar, frei von ihrem Gesicht nach hinten schwingend, ein Jungenfahrrad, das ihrem Bruder gehörte, ihre hellen Schenkel, ihr Lachen hoch und melodisch in der stillen, heißen Luft unter der Wölbung des Viadukts, dann plötzlich Bäume; sie ließen die Räder im tiefen Schatten, führten sie vom Pfad und legten sie flach ins frische, junge Gras. Er suchte ihren Mund, ihr schwarzes Haar hing wie ein Vorhang über seinem Gesicht, er berührte die weiche Wärme an der Innenseite ihrer Schenkel; er konnte sich erinnern.
    Wer?
    Ein Junge.
    Ein Mädchen.
    Ihre Namen wußte er nicht.
    Er erinnerte sich vage an Sam Buddwing, einen Jungen, der Fahrradklammern an der Hose trug; das Rad war schwarz mit weißen Streifen, er wußte es noch, doch der Junge, dessen er sich entsann, blieb unklar und verschwommen. Er konnte sein Gesicht nicht sehen, nur eine schmale, eckige Gestalt, die Kopfhaltung ungefähr wie bei dem Mann, den er im Plaza im Spiegel erblickt hatte – so viel und nicht mehr, und dann war auch das verschwunden.
    Die leere Stadt umgab ihn.
    Er hörte das Klicken seiner Schuhe auf dem Pflaster; die Straße war menschenleer. Und plötzlich packte ihn das Verlangen, den Fußsteig zu verlassen und auf dem weißen Strich, der die Fahrbahnmitte markierte, bis zur Sixth Avenue hinaufzurennen. Das Verlangen legte sich bald. Die Stadt schien stiller als je zuvor. Sogar die Vögel schwiegen. Er fragte sich, wie er sich hatte vornehmen können, mit der Untergrundbahn zu fahren, obwohl er keinen Cent in der Tasche hatte; doch dann kam ihm ein kühner Gedanke. Er wußte, daß er ihn ausführen würde und ging schnell zum Stationseingang. Er grinste breit, die Waghalsigkeit seines Plans erregte ihn; er war sich darüber klar, daß ihm dergleichen nie eingefallen wäre, daß er nie gehofft hätte, dergleichen könne gelingen, wenn er gewußt hätte, wer er in Wirklichkeit war, wenn er eine reale Identität besäße und einen realen Namen. Doch er war Sam Buddwing und kannte keine einzige Seele; so eilte er die Stufen hinab, die Augen suchend zu Boden gerichtet.
    Er brauchte ein Stück Pappe oder Papier – nein, Pappe war besser. Schon sah er die Kassensperre vor sich. Zu dieser frühen Morgenstunde saß nur ein Mann darin, der vermutlich noch halb schlief. Es würde gelingen. Er hatte das sichere Gefühl, daß es gelingen würde. Und dann fand er, was er suchte: ein Stück weiße Pappe, gegen die Wand gefegt, das zweifelsohne einmal zur Verpackung eines Schokoladenriegels gehört hatte. Er hob es auf und betrachtete es. Es schien
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