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Schock

Titel: Schock
Autoren: Hunter Evan
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Dieb, einen Raubüberfall? War nicht ebensogut möglich, daß er seine Wohnung, sein Hotelzimmer, wo es auch sein mochte, verlassen und Brieftasche, Uhr und Geld nicht mitgenommen hatte? Übrigens besaß er vielleicht überhaupt keine Uhr. Nein, er kannte kaum jemanden in der ganzen Welt, der nicht zumindest eine Armbanduhr besaß. Wieder ein Gedanke, der ihn belustigte. Nicht nur, weil er kaum jemanden kannte, der keine Uhr besaß – er kannte schließlich überhaupt kaum jemanden, punktum. Exakt ausgedrückt – was hieß hier kaum? – er kannte absolut niemanden in der Welt. Nicht eine einzige lebende Seele kannte er – es sei denn, er kannte Präsident Johnson und die anderen, deren Namen sein Hirn durchzuckt hatten. Warum eigentlich nicht? Vielleicht rief er den Präsidenten Abend für Abend an und sagte zu ihm: »L.J. gehen Sie mit zum Kegeln?« Vielleicht war er ein Delegierter der Vereinten Nationen. Du lieber Himmel, vielleicht war er Adlai Stevenson selbst. Warum eigentlich nicht? Noch hatte er nicht einmal sein eigenes Gesicht gesehen.
    Der Gedanke, daß er wirklich Adlai Stevenson sein könnte, dem es eingefallen wäre, den Central Park zu durchwandern und den man überfallen und auf einer Bank zurückgelassen hatte, schien ihm sehr real und durchaus möglich; er wußte, daß Adlai Stevenson kahlköpfig war, deshalb berührte er seinen Kopf, um zu erfahren, ob er kahlköpfig und mithin Adlai Stevenson wäre.
    Er fühlte Haar.
    Es war ziemlich kurz geschnitten, kein Bürstenhaarschnitt, aber kurz genug. Schön, dann war er eben nicht Adlai Stevenson; er empfand Erleichterung. Daß er jemand war, der Stevenson kannte und der Johnson kannte, war damit noch nicht ausgeschlossen, eine wichtige Persönlichkeit, die sich in hohen politischen Kreisen bewegte – warum eigentlich nicht? Sein Anzug war von De Pinna, er trug goldene Manschettenknöpfe und eine goldene Krawattennadel – es war offensichtlich, daß er aus dem Sherry-Netherland-Hotel kam, wo eine wichtige Veranstaltung der Demokratischen Partei stattgefunden hatte, und daß Uhr und Brieftasche zufällig in jener Herrentoilette zurückgeblieben waren, in der er neben Dean Rusk gestanden hatte.
    Er stand auf.
    Zuallererst, das begriff er jetzt, mußte er etwas anderes tun, als er sich anfangs vorgenommen hatte. Die Telefonnummer im schwarzen Buch, wenn es überhaupt eine war, schien noch nicht besonders dringend, sie war wohl auch nicht so schrecklich wichtig. Das wichtigste war, einen Spiegel zu suchen und sich selbst scharf ins Auge zu fassen. Vielleicht überraschte er sich mit der Entdeckung, daß er Gary Grant war. Wären Leute in der Nähe (wo zum Teufel war nur die ganze Stadt?), würde er es bald genug wissen, ob er Cary Grant war – mit höchster Wahrscheinlichkeit würde ihn irgendwer um ein Autogramm angehen oder bei seinem Anblick ohnmächtig zu Boden sinken; doch unseligerweise waren keine Leute in der Nähe. Davon abgesehen, bedeutete auch ein Ohnmächtiger noch nicht unbedingt, daß er Cary Grant war. Ein Ohnmächtiger ließ ebensogut darauf schließen, daß er Burt Lancaster war, Frank Sinatra oder, die Ohnmachtsgewohnheiten gewisser Kreise eingerechnet, vielleicht Van Cliburn. Er musterte seine Finger. Sie waren lang und schmal. Vielleicht war er Pianist, vielleicht auch Bongotrommler; die Möglichkeiten waren unbegrenzt und, um bei der Wahrheit zu bleiben, ein wenig furchteinflößend. Angenommen zum Beispiel, er fände irgendwo einen Spiegel und stellte sich davor; angenommen, er wäre wirklich Cary Grant; angenommen weiter, er würde Cary Grant nicht erkennen, wenn er vor ihm stünde – was dann? Man stelle sich vor, er sähe nur irgendwen, der ihn wiederum ansähe, und hätte nicht die leiseste Ahnung, um wen es sich handelte, Tony Curtis, Doktor Schweitzer – lieber Gott, gib, daß ich nicht Doktor Schweitzer bin!
    Er machte sich auf den Weg.
    Der Tag war mild und klar, von einem leichten Dunst abgesehen, der hoch zwischen den Hotels und Apartmenthäusern hing, die sich in der Fifth Avenue aneinanderreihten. Er verließ den Park und ging gleich hinter der Reiterstatue zum Springbrunnen vor dem Plaza-Hotel hinüber. Er sah sich nach einer Uhr um, suchte die Obergeschosse der Hochhäuser ab (gab es da nicht so ein verdammtes Ding, das alle drei oder vier Sekunden Temperatur und Zeit aufblinken ließ – wo zum Teufel mochte das geblieben sein?), doch er fand keine Uhr. Er wußte, daß es sehr früh am Morgen war –
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