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Schock

Titel: Schock
Autoren: Hunter Evan
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gleich nachdem sich die Sonne vom Horizont gelöst hatte, mußte er aufgewacht sein. Vor dem Plaza warteten nicht einmal die üblichen Taxen, noch war es zu früh. Selbst der Dienst des Türstehers vor dem Hotel hatte noch nicht angefangen. Er drängte sich durch die Drehtüren und war gerade auf dem Weg zum Palmenhof, als er zu seiner Rechten einen Mann sah, der parallel mit ihm ging.
    Der Mann erschreckte ihn.
    Drehte er sich, so drehte der Mann sich gleichfalls. Und dann begriff er plötzlich, daß er die Türen der Herrentoilette anstarrte – er sah das Schild HERREN – und daß jeder Flügel der Doppeltür in acht Spiegel aufgeteilt war: der Mann, der ihn anstarrte, war er selbst. Lackierte Holzleisten teilten die Spiegeltüren auf; um sein eigenes Gesicht zu sehen, mußte er sich bücken, weil gerade in Augenhöhe eine Querleiste den Spiegel teilte. Seine Augen begegneten den Augen des gebückten Mannes im Spiegel, beide schauten einander an, ohne sich zu erkennen, zwei Fremde, keiner wußte, wer der andere war. Er trat näher zum Spiegel. Der Mann mochte fünfunddreißig Jahre alt sein. Sein Anzug, wenn auch noch verdrückt von der Nacht, war offenbar teure Maßarbeit und saß makellos. Seine Krawatte war zu einem Windsorknoten geschlungen. Er trug ein Hemd mit schmalem Kragen. Sein Haar war bräunlichschwarz.
    Er sah dem anderen in die Augen, in die Augen eines Mannes, der er selber war und den er nicht kannte. Es waren blaue Augen mit winzigen weißen Flecken, die Brauen darüber ein wenig buschig. Die Nase des Fremden, des Mannes im Spiegel, schien sein Gesicht zu teilen; sie war wirklich ein wenig zu groß. Die Wangenknochen waren hoch – in diesem Punkt hatte er sich nicht geirrt. Die Oberlippe war in Wirklichkeit nicht so schmal, wie er sie sich vorgestellt hatte; er hatte einen vollen, kräftigen Mund, dieser Mann im Spiegel. Alles in allem ein gutaussehender Mann; er mochte diesen Mann, den er im Spiegel sah, wenn er auch nicht die geringste Ahnung hatte, um wen es sich handelte. Immerhin, dachte er, du bist nicht Gary Grant.
    Das Spiegelbild faszinierte ihn. Der Wissensbestand im Hintergrund seines Bewusstseins bereicherte sich um eine weitere Einzelheit: um ein Bild, von dem er wußte, daß es sein eigenes war, ein Bild, das fortan die äußere Schale sein würde, in der er leben und handeln konnte, ein Bild, das er bisher nicht besessen hatte. Bisher war er nur körperloses Bewußtsein gewesen, das sich durch einen grenzenlosen Raum bewegte; nun hatte der Raum sich begrenzt und Form angenommen, hatte sich selbst eine Oberfläche geschaffen – dieses Bild, das ihm von der Spiegelwand des Plaza-Hotels entgegenstarrte, ein Bild, das ihm auf der Stelle gefiel, ein Bild, das ihn faszinierte. Er hob eine Braue, eine Grimasse, die er sich mit sechzehn angewöhnt hatte – wieder eine Einzelheit dem wachsenden Bestand im Hintergrund seines Bewusstseins hinzugefügt. Die Person, der er gegenüberstand, entzückte ihn – dieses Gesicht mit blauen Augen und ungekämmt weichwelligem Haar, dieser breitschultrige, schmalhüftige, offenkundig intelligente und gutaussehende Herr, der ihn aus dem Spiegel ansah und den Fremden, der ihn mit so unverhohlenem Vergnügen anlächelte, zu mögen schien. Er trat wieder einen Schritt vom Spiegel zurück und fühlte plötzlich, daß er hungrig war.
    Der Hunger schien ihn mit so unvermittelter Gewalt zu überfallen, daß ihm klar wurde: er war vermutlich schon von dem Augenblick an da gewesen, in dem er erwachte, nur von wichtigeren Dingen – zum Beispiel der Überlegung, wer er selber war – beiseitegedrängt worden. Der Hunger verlieh der Telefonnummer – wenn es eine Telefonnummer war, die er in dem schwarzen Buch gefunden hatte – plötzliche Dringlichkeit. Geld hatte er nicht, und um zu essen, mußte man Geld haben. Vielleicht hatte die Person am anderen Ende der Leitung Geld und konnte es ihm geben oder leihen. Möglich auch, daß diese Person ihn kannte, ihn liebte und ihm zu essen gab. Er ging unverzüglich zu einem der Haustelefone, hob ab, schlug abermals das schwarze Buch auf und wartete, bis eine Hoteltelefonistin sagte: »Ja, bitte?«
    »Vermittlung, können Sie mich mit MO 6-2367 verbinden?«
    »Sind Sie Gast des Hauses, Sir?«
    »Ja«, log er.
    »Ihre Zimmernummer, bitte?«
    »407«, sagte er.
    »Augenblick, bitte.«
    Er wartete, halb in dem Argwohn, daß die Telefonistin ein vollständiges Register aller Zimmergäste durchginge und dabei
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