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Schneewittchens Tod

Schneewittchens Tod

Titel: Schneewittchens Tod
Autoren: Brigitte Aubert
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erklimmen. Dabei glaubte er, die Hitze durch die Steine hindurch zu spüren. Ein Schrei hinter ihm, fast hätte er den Halt verloren. Er drehte sich um. Blanche stand auf der Türschwelle der Villa, die Augen weit aufgerissen, eine Hand an der Kehle. Blanche war nicht in der Kapelle! Blanche würde nicht sterben, sagte er sich und kletterte weiter, mit dem Gefühl, dass die Freude, die er empfand, etwas Obszönes hatte.
    Wie von einer Woge getragen, erreichte er das Fenster, setzte sich auf den Vorsprung, zog seine nach Schweiß stinkende Jacke aus, wickelte sie sich um den Arm und zerschlug eine prächtige Kreuzweg-Szene. Der Rauch, der herausdrang, ließ ihn husten. Er warf die Jacke nach unten und wickelte sich ein Taschentuch als Atemschutz vor Nase und Mund. Dann beugte er sich vor.
    Die Hölle, ihre Flammen und ihre Verdammten. Eine Feuerwand, gespeist vom Holz des Chorgestühls und der Bänke, blockierte den Weg zur Eisentür, die außerdem verriegelt war. Die Flammen hatten die Standarten an den Wänden verschlungen, was erklärte, warum sie aus dem zerborstenen Fenster schlugen. An den gläsernen Sarg unter der Christusfigur gedrängt, verfolgten Dubois und Andrieu, die Gesichter starr vor Entsetzen, das Fortschreiten des Feuers. Die Hitze war bereits unerträglich, Rauch füllte den Kirchenraum und verursachte ihnen Hustenkrämpfe. Chib sah, dass Andrieu die kleine Eunice auf dem Arm trug, während Dubois Annabelle an der Hand hielt. Belle-Mamie war auf die Knie gesunken. Er fragte sich, warum sie nicht bis zu den Fenstern hinaufgeklettert waren, um zu fliehen, dann aber sah er, dass das Chorgestühl an den Wänden auch schon in Flammen stand und den Zugang versperrte. Chib dachte flüchtig, dass man es mit Benzin übergossen haben musste, sonst würde es nicht so schnell und so heftig brennen. Der Kanister?!
    Jetzt hatte er Gaelle entdeckt, die zur Nische hinaufgeklettert war, sicher um die Rosette aufzuschlagen, doch die Öffnung war mit einem Gitter versehen. Er schrie, so laut er konnte, ihren Namen. Sie drehte ihm ihr verstörtes hochrotes Gesicht zu.
    »Ich komme!«, brüllte er noch.
    Er beugte sich nach draußen. Blanche stand unten, so totenbleich, dass er sich fragte, ob überhaupt noch ein Tropfen Blut in ihren Adern floss.
    »Helfen Sie mir, die Leiter anzuheben, ich muss sie ins Innere ziehen«, rief er ohne weitere Erklärung und ohne auf Charles anzuspielen, der keine zehn Meter entfernt am Ast eines Baumes hing.
    Blanche stellte keine Fragen, sagte kein Wort. Sie griff nach den glatten Holmen der Leiter, hob sie mit aller Kraft hoch, während Chib sie zu sich herzog. Die oberste Sprosse war jetzt auf seiner Höhe, er griff nach der zweiten und schob die Leiter ins Innere, dann bekam er die dritte zu fassen und so weiter, bis sie zur Hälfte auf dem Fenstersims lag. Der Schweiß rann ihm über die Stirn, als käme er gerade aus der Dusche, und versperrte ihm nicht minder die Sicht als der Rauch.
    Das Feuer breitete sich immer weiter aus, die Kinder schrien nicht mehr, sie fixierten die Flammen mit starren Augen. Würden sie mit der Leiter über das brennende Chorgestühl bis zu ihm klettern können? Oder musste er sie wie eine Hängebrücke zu Gaelle hinschieben? Ja, das wäre wohl die beste Lösung. Gaelle hatte bereits verstanden und machte ihm ein Zeichen. Er stützte sich an der Mauer ab und schob die Leiter waagerecht zu ihr hin. Sie durfte sich nicht neigen, sonst würde sie fallen, und er hätte nicht die Kraft, sie zu halten. Sie musste also im Gleichgewicht bleiben, sagte er sich, die  Bauchmuskeln zum Zerreißen angespannt. Er streckte die Beine vor, um die Leiter stützen zu können. Aber die Kapelle war nicht sehr breit, und er sah, wie jetzt auch Gaelle die Beine vorstreckte, die erste Sprosse mit den Füßen zu fassen bekam, sie zu sich herzog, bis das Metall an die Wand stieß, nach den Holmen griff, fast das Gleichgewicht verlor und sie auf den Vorsprung legte. Er tat das Gleiche.
    Auf Gaelles Seite reichten die Holme bis ans Ende der Nische. Auf seiner Seite ragten sie ein Stück aus der Fensteröffnung. Unten verfolgten die Schiffbrüchigen des Flammenmeers ihr Manöver mit angstverzerrten Gesichtern. Plötzlich kletterte Andrieu auf den Altar und begann, Eunice auf einem Arm, sich an der Christusfigur hochzuziehen, um zu Gaelle zu gelangen. Sobald er konnte, streckte er Gaelle das Kind entgegen und kletterte wieder hinunter. Damit die Leiter nicht abrutschte, setzte sich
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