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Schneekind

Schneekind

Titel: Schneekind
Autoren: Silke Nowak
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Verachtung umgehen, die mir entgegengebracht wurde. Vor Gericht mag es für einen Laien so ausgesehen haben, als verteidigte ich Anne sogar. Nach dem Tod von Alexander Marquard hat Nadine ein Gesuch bei der Deutschen Psychoanalytischen Vereinigung eingereicht: Man möge Dr. Samuel Frey die Lizenz entziehen oder zumindest die Kassenzulassung streichen. Den Vorwurf, ich hege Sympathien für eine Mörderin, wies ich jedoch strikt von mir.
    Dass ich mit Anne geschlafen habe, auch.
    „Ich will das Kind“, wiederholte sie, ohne mich anzusehen.
    „Natürlich“, sagte ich beschwichtigend. „So leicht geht das aber nicht. Wir müssen warten, bis jemand vom Jugendamt hier ist, jeden Moment müsste jemand eintreffen.“
    Nadine öffnete ihre Tasche und zog einen Brief heraus. „Das ist ein Gerichtsurteil“, sagte sie. „Es wurde bereits darüber entschieden, dass der Junge, sobald er abgestillt ist, zu Alexander und mir kommt.“
    Ich nickte. Nadine war überzeugt, dass Anne Alex vorsätzlich umgebracht habe. Doch die ermittelnde Kriminalpolizei konnte diesen Verdacht bisher nicht erhärten. Vor allem die Frage, woher Anne das Gift gehabt haben soll, blieb ungeklärt. Anne war im Januar buchstäblich nackt in die Klinik eingeliefert worden. Zudem wurde vor jedem Besuchertermin eine Leibesvisitation durchgeführt. Die Getränke wurden von einer Schwester zubereitet. Die einzige Möglichkeit war, dass Alex die Tabletten mitbrachte und sie Anne gab. Doch hätte er dann selbst eine genommen? Alexander Marquard hatte sich in den letzten Monaten stark verändert, er war psychisch instabil gewesen. Hatte er sich etwa selbst umgebracht?
    Es klopfte. Justus betrat den Raum, sprach beruhigend auf Frau Marquard ein und stellte die Dame im grauen Kleid vor, die auf der Türschwelle wartete. „Das ist Frau Lublinski vom Jugendamt. Sie wird darüber entscheiden, was mit dem Kleinen geschieht.“
    „Ich bin die Adoptivmutter“, stellte sich Nadine vor. „Ich bin Hebamme.“
    Frau Lublinski nickte anerkennend.
    „Kann ich das Kind jetzt sehen?“, fragte Nadine sanft. „Wo ist es überhaupt? Das hier ist doch“, sie deutete auf die vergitterten Fenster, „kein Ort für ein Kind.“
    Justus versprach, als er sich verabschiedete, Schwester Ingrid Bescheid zu geben. Wenig später brachte sie ein brüllendes Kind.
    Nadine nahm es in Empfang. Sie legte das Kind auf ihren Unterarm und wiegte es hin und her. Augenblicklich wurde es still; triumphierend blickte sie uns an.
    „Muss ich eigentlich davon ausgehen, dass das Kind erblich vorbelastet ist?“, fragte sie.
    „Wie meinen Sie das?“
    „Naja. Anne war ja verrückt, und ich möchte wissen, ob das erblich ist.“
    „Nein“, sagte ich und betrachtete den Kleinen liebevoll. „Genetische Faktoren und organische Ursachen können wir in diesem Fall ausschließen.“ Tränen traten mir in die Augen. In letzter Zeit passierte mir das öfters.
    Die menschliche Psyche war doch ein Teufelswerk. Fast 15 Jahre habe ich versucht, die Weichen in eine andere Richtung zu stellen, ich habe an tausend kleinen Rädchen gedreht, um das zu ändern, was Anne immer „ihr Schicksal“ genannt hatte. Plötzlich kam ich mir klein und unbedeutend vor angesichts eines Gottes, der ein grausames Spiel mit uns spielte.
    „Der Junge braucht vor allem eins“, räusperte ich mich: „Liebe.“
    Zum Abschied lächelte Nadine mir zu.
    Leise schloss ich die Tür. Mein Blick ruhte auf dem verzierten Handgriff, der noch aus der Gründerzeit zu stammen schien. Gedankenverloren fuhr ich mit dem Fahrstuhl eine Etage tiefer in die Cafeteria und holte mir eine Tasse Kaffee. Ich setzte mich an einen leeren Tisch und begann, in Annes Tagebuch zu lesen.
    Zehn Minuten später stand ich wieder auf. Ich ging zu der Glasfront und blickte auf den Parkplatz hinab. Unten stand ein großer, schwarzer Mercedes. Vor zwei Jahren habe ich mich dazu hinreißen lassen, dieses für Berlin viel zu große Auto zu kaufen. Wenn Anne mich zu Hause in Charlottenburg besucht hatte, stand es meistens vor dem Eingang.
    Jetzt wurde mir klar, dass Sylvia nicht die einzige Projektion von Anne gewesen war. Anne hatte auch mich – die Seite an mir, die sie für bedrohlich hielt – in den Taxifahrer projiziert, der sie damals zum Flughafen Tegel gefahren hatte. Am Morgen des 24. Dezembers. Während der letzten Monate hatte sie in der Klinik sogar mehrmals davon gesprochen, dass sie Angst vor diesem Fahrer gehabt habe, den sie detailliert als
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