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Schneekind

Schneekind

Titel: Schneekind
Autoren: Silke Nowak
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klar wie möglich auszudrücken. Sie halten dich sonst für verrückt.
    „Hendrik Marquard war an den tragischen Prozessen der Weihnachtsnacht von 1997 nicht beteiligt. Warum musste er sterben?“
    „Ich weiß es nicht“, sagte ich wahrheitsgemäß. „Ich habe ihn nicht umgebracht.“
    Frey nickte. In seinem Blick lag wieder diese Enttäuschung, dabei habe ich es ihm schon mehrfach erklärt, dass ich vor Gericht eine Falschaussage gemacht habe, weil ich Sylvia schützen wollte.
    „Ich weiß, du glaubst mir nicht“, sagte ich und hob bedauernd meine Hände. „Aber so ist es.“
    Zehn Monate habe ich Frey in dem Glauben belassen, meine Weihnachtsphobie wurzele in frühkindlichen Erlebnissen; vielleicht glaubt er mir deshalb nicht mehr.
    „Nehmen wir mal an, rein theoretisch, du hättest recht. Weshalb hätte Sylvia ihren Bruder umbringen sollen? Weil sie dachte, er hätte gesehen, wie sie Friedrich vergiftet hat? Das ist doch Quatsch. Du hast das Gift in die Aprikosenplätzchen getan.“
    „Das stimmt“, nickte ich und legte meine Hände auf den Bauch. Der Kleine schlief bereits.
    „ Du hast Friedrich vergiftet“, insistierte Frey. „Zugleich suggerierst du, Sylvia habe es getan. Was folgt denn daraus?“
    „Ich denke, es hat was mit Christa zu tun. Immerhin haben Friedrich und Daniela Wächter über Jahre“, ich wog meine Worte genau, „miteinander geschlafen“, sagte ich schließlich.
    Wenn du sagst, sie haben „gefickt“, attestieren sie dir eine Triebstörung, wenn du sagst, sie hätten „den Geschlechtsverkehr vollzogen“ kann das ebenfalls auf eine Triebstörung hinweisen, allerdings in die andre, verklemmte Richtung.
    „Du meinst also, Sylvia wollte ihre Mutter rächen?“
    „Entweder das“, sagte ich. „Oder sich selbst. Vielleicht hat sie doch nicht verzeihen können.“
    Ich sah Frey offen an: „Ich weiß, du denkst jetzt, ich will Sylvia einen Teil meiner Schuld zuschieben, aber ich habe wirklich nicht diese Absicht.“
    Auch Frey sah mich an. Ich wusste, was er in diesem Moment dachte, er hatte es mir ja selbst schon oft erklärt: ein klassischer Fall von Übertragung. Er dachte, ich wollte ihm Gedanken zuschreiben, die in Wirklichkeit meine eigenen sind. Aber das stimmte nicht. Ich wollte ihm wirklich nur sagen, dass ich dachte, dass der denkt ...
    Ich spüre wieder diese Müdigkeit. Ich werde jetzt Schluss machen. Seit Wochen schlafe ich nicht mehr richtig, dauernd muss ich auf die Toilette, der Kleine strampelt ab zwei Uhr morgens so stark, dass ich keinen Schlaf mehr finde.
    Samstag, 26. Juli . Die 33. Woche ist geschafft. Dem Kleinen geht es gut. Heute war Sylvia da, wir haben uns lange unterhalten. Sie freue sich auf das Baby, meinte sie.
    Donnerstag, 7. August. 35 Woche. Es ist heiß. Mein Körper ist schwer. Meine Füße sind geschwollen. Ich kann mich kaum noch bewegen. Es gibt keine Klimaanlage hier drin.
    Sonntag, 31. August . Es ist schon spät, ich habe das Fenster geöffnet, eine Fliege schwirrt um mich herum. Das Gitter vor dem Fenster taugt nicht als Fliegengitter. Was ist heute eigentlich passiert? Ich muss mir darüber klar werden, ich muss. Also versuche ich es mit Schreiben:
    Wie immer sonntags kam Alex, um mich zu besuchen. Nadine war bei ihm, vielleicht, weil ich heute Geburtstag habe. Bin ich wirklich schon 39? Alex gab mir ein Geschenk, dann einen Kuss auf die Wange. Nadine gab mir die Hand.
    Alex und ich saßen uns an dem weißen Tisch gegenüber, Alex reichte mir das Geschenk. Nadine blieb hinter ihm stehen.
    „Tee? Kaffee?“, fragte eine Schwester, die ich nur vom Sehen kannte.
    Alex nahm einen Tee, ich ein Glas Wasser.
    „Für mich eine Cola, wenn Sie haben.“ Nadine wirkte verlegen.
    Die beiden wollten wissen, wie es mir geht. Ich bin jetzt in der 38. Woche. Ab jetzt gilt das Kind nicht mehr als Frühgeburt, wenn es kommt.
    Es geht mir gut, sagte ich. Und dann: „Gibt es was Neues?“ Ich muss es gespürt haben.
    „Wir müssen es ihr sagen“, hörte ich Nadines Stimme. „Professor Hornig meint, es sei gut, wenn man sie mit der Realität konfrontiert.“
    Ich sah den schmerzlichen Zug in Alex’ Gesicht, es war derselbe wie bei Christa.
    „Alex und ich“, sagte Nadine sanft, „wir haben, wir wollen …“
    Die Fliege sirrt um mich herum. Hat Nadine das wirklich gesagt?
    „Wir haben vor zwei Wochen geheiratet“, sagte sie. „Aber nur standesamtlich, keine große Feier, ich hoffe, du verstehst das.“
    Ich sah Alex an. Zuerst wich er meinem
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