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Schneekind

Schneekind

Titel: Schneekind
Autoren: Silke Nowak
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Blick aus, dann nickte er. „Ich stehe das alles nicht mehr durch“, stotterte er. „Ich brauche Halt.“
    Haben die beiden wirklich gesagt, dass sie geheiratet haben? Ich blieb so seltsam ruhig, als säße ich in einer warmen Badewanne. Selbst wenn? Die Vorstellung, eines Tages ein normales Familienleben mit Alex zu führen, war doch ohnehin absurd.
    Ich öffnete das Geschenk. Es war die rote Winkekatze, die ich Alex zu Weihnachten geschenkt hatte. Rot stärkt die Liebe.
    „Ich dachte, du kannst sie jetzt mehr gebrauchen als ich“, sagte er leise. „Aber mach dir keine Sorgen. Sobald die ersten Wehen einsetzen, kommst du sofort ins Westend Krankenhaus und die machen einen Kaiserschnitt.“
    Ich nickte. Das war so abgesprochen.
    „Es ist besser so, Anne“, sagte Nadine wieder. „Überleg doch einfach mal, auch für dich und das Baby, Alex muss schließlich den ganzen Tag arbeiten, der Kleine käme am Ende noch in ein Heim, und mit einer Hochzeit ist das alles geregelt, ich kann mich um den Jungen kümmern und ...“
    Ich streichelte mir über den Bauch.
    „Stopp“, sagte Alex zu Nadine. Er stand auf und gab ihr ein Zeichen, mit ihm hinaus auf den Gang zu gehen. Draußen hörte ich die beiden zuerst flüstern, dann wurden die Stimmen lauter. Sie stritten sich. In diesem Moment fühlte ich, wie sehr ich Alex liebte.
    Ich drehte das Kätzchen in meiner Hand. Die Schwester lächelte mir kurz zu, bevor sie sich wieder in ihre Lektüre vertiefte.
    Als die beiden wieder eintraten, hatte Alex tiefe Falten auf der Stirn und Nadine ein beleidigtes Gesicht.
    „Ich wollte es dir nicht sagen“, entschuldigte sich Alex bei mir, nachdem er sich wieder gesetzt hatte. „Nicht vor der Geburt. Es tut mir leid.“
    Er streckte seine Hand über den Tisch und wir klammerten uns aneinander wie zwei kleine Kinder.
    Dann trank Alex die Cola auf einen Zug leer. Nadines Cola.
    „Alex!“, schrie ich.
    Alex, schreie ich wieder. Alex, Alex, Alex.
    5. September . Vor fünf Tagen ist Max geboren. Er kam am 1. September um 11.20 Uhr per Kaiserschnitt zur Welt, zehn Tage vor dem Geburtstermin. Alles lief so, wie Alex es geplant hatte. Alles lief gut. Ich bin jetzt wieder hier in der Parkklinik, in sechs Wochen soll ich in einen Maßregelvollzug überstellt werden.
    Alle drei Stunden bringen sie mir Max zum Stillen. Sie lassen mich nicht alleine mit ihm.
    Ich weine viel, sogar wenn ich den Kleinen im Arm halte, laufen mir die Tränen hinab. Ich weiß, dass das mit der Hormonumstellung zu tun hat. Wenn mir früher eine Wöchnerin erzählte, es falle ihr schwer, die richtige Liebe zu empfinden, dann habe ich immer geantwortet: Das sei ganz normal. Insgeheim dachte ich, mit der stimmt doch was nicht.
    Stimmt etwas mit mir nicht?
    Sylvia ist die Einzige, die mich seit der Geburt besucht hat. Wenn sie den Kleinen in den Arm nimmt, hört er sofort auf zu schreien.
    Es ist jetzt 0.27 Uhr. Eben habe ich Max gestillt. Meine Brustwarze ist entzündet und schmerzt. Schwester Ingrid hat ihn wieder mitgenommen. Ich bin so müde. Ich will schlafen, nur ein paar Stunden, schlafen, träumen.
    Ich kann nicht schlafen.
    Alex? Wo bist du?
    Ich bin wieder auf Schloss Albstein. Ich sehe durch die große Fensterscheibe hinaus in den Garten. Ein Kind steht draußen im Schnee, es zeigt mir eine Schnur und öffnet den Mund, als wollte es etwas sagen. Das Kind trägt nur ein Nachthemd. Komm herein, möchte ich rufen, es ist doch kalt draußen.
    Da halte ich verwundert inne. Im Schnee sind keine Fußspuren.
    War es nur ein Spiegelbild? Mein Wunschbild? Das Kind steht längst hinter mir. Es legt mir die Nabelschnur um den Hals. Jetzt erkenne ich, was es damit will.
    „Sylvia, bist du das?“
    „Ja.“
    „Ich habe Alex geliebt“, sage ich.
    „Ich weiß.“ Sie hält meine Hand fest.
    „Liebe ist ein furchtbares Wort“, sagt Sylvia und lächelt seltsam, als erinnerte sie sich an jemand.
    „Ich werde dich ab jetzt nicht mehr besuchen kommen, Anne“, sagt sie. „Das ist das letzte Mal“, sagt sie. Sie trägt ein weißes Glitzerkleid. Ich halte mir die Ohren zu. Ich kann es nicht mehr ertragen. Dieses hohe, durchdringende Gebrüll lässt mich keinen klaren Gedanken mehr fassen.
    „Sylvia?“
    Sylvia ist weg.
    Ich brauche ein Glas Wasser.
    „Alex?“
    Alex ist tot.

12. Kapitel: Manuskript aus den Unterlagen von Dr. Samuel Frey
    Als Schwester Ingrid am Samstag, den 6. September, früh morgens das Zimmer betrat, lag Anne regungslos im Bett. Zuerst dachte
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