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Schneekind

Schneekind

Titel: Schneekind
Autoren: Silke Nowak
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lag es am Timbre seiner Stimme, vielleicht an seiner Erfahrung als Psychotherapeut, dass es nicht kitschig klang, wenn er „Fest der Liebe“ sagte.
    Fest der Liebe . Kehlig tief sprach Frey es aus und jagte mir damit Schauder über den Rücken.
    „Wenn du Angst vor einer Spinne hast, streichele eine. Wenn du Angst vor Höhe hast, tanze auf dem Eiffelturm. Und wenn du Angst vor Weihnachten hast“, Frey machte eine bedeutende Pause, bevor er lächelnd hinzufügte: „Dann feiere ein großes Fest.“
    Ich öffnete die Augen. Wieder Parfumwerbung: Gwyneth Paltrow in einem schwarzen Kleid. Boss Nuit pour Femme. Das wird Ihre Nacht .
    Ich blickte hinaus.
    Am Westhafen bogen wir in den Saatwinkler Damm, der parallel zum Schifffahrtskanal verlief. Ein altes Schiff ankerte am Ufer, die Fenster und Türen waren verbarrikadiert. Es war festgezurrt im Hohenzollernkanal und auch wir waren unterwegs in eine Stadt, die von der Geschichte der Hohenzollern entscheidend geprägt worden war, von ihren Palästen und Intrigen. Was ich nicht wusste, war, dass diese Stadt auch meine Geschichte entscheidend prägen sollte, auch wenn ich nicht – beileibe nicht – aus einer Herrscherfamilie stammte.
    Mein Großvater väterlicherseits stand bei VW am Fließband, mein Vater dann in Zwickau, wo sie den Trabi produzierten; nur meine Mutter durfte in der DDR studieren, ohne es wirklich gewollt zu haben. Im Grunde ist die Geschichte meiner Familie gezeichnet von enttäuschter Liebe und Depressionen. Mit zehn Jahren wurde mir klar, dass meine Großmutter mütterlicherseits, die ich nie kennengelernt hatte, nicht aus Versehen über das Geländer des Fichteturms in Dresden gestürzt sein konnte; es war viel zu hoch. Doch ich ließ meine Mutter in dem Glauben, denn als Großmutter stürzte, war Mama erst acht Jahre alt; damals hieß der Fichteturm noch Bismarckturm. Ich lächelte Alex zu.
    „Müssen Sie heute Nacht auch arbeiten?“, fragte Alex, der sich gern mit Taxifahrern unterhielt.
    Berlin war hier draußen nicht mehr so dicht, Wiesen und unbebaute Flächen schoben sich ins Bild. Ich beobachtete einen schwarzen Vogel, der lange flatternd in der Luft stand, sich dann aber plötzlich hinabstürzte, als hätte er ein Opfer erblickt. Dabei war der Boden gefroren. Und er ernährte sich längst vom Müll der Großstadt.
    „Das ist sicher auch nicht immer einfach“, hörte ich Alex.
    Der Fahrer nahm eine scharfe Linkskurve. Dann sagte er: „Die meisten Menschen wollen in dieser Nacht gar nicht an ihr Ziel gelangen.“
    Während sich Alex weiter unterhielt – „Haben Sie Philosophie studiert?“ –, lehnte ich mich in dem Ledersitz zurück und schloss die Augen.
    Ruckartig öffnete ich sie wieder. Etwas stimmte nicht. Ich starrte auf den Bildschirm.
    Hallo Anne. Heute ist Weihnachten. Erinnerst du dich an mich?
    Mein Herz raste. Langsam wurde ich also verrückt. Alex und der komische Alte unterhielten sich jetzt über Sport. Ich nahm meinen Schal und legte ihn über den Vordersitz. Zu meiner Erleichterung blieb es beim Herzklopfen. Alles unter Kontrolle.
    Hallo Anne ... Woher wusste der Fahrer meinen Namen? Wer sonst hätte das auf den Bildschirm einspielen können? Wieder schielte ich zu den beiden Männern, wieder beachteten sie mich nicht.
    Pass auf. Dr. Alexander Marquard ist ...
    Nein. Schluss damit. Es gab nur eine Erklärung: Meine Phobie war in ein neues Stadium getreten. Ich musste das Frey erzählen. Bisher hatte ich immer nur körperliche Symptome wie Herzklopfen, Schweißausbrüche und Bauchkrämpfe gezeigt; dass ich halluzinierte, war neu.
    Wieder schloss ich meine Augen.
    Frey hatte recht. Es war höchste Zeit. Ich musste etwas dagegen tun, ich wollte mich nicht mehr verstecken müssen, ich wollte nicht mehr weglaufen, ich wollte dieses Fest feiern wie andere Menschen auch. Mit einem Weihnachtsbaum, mit Geschenken, Kerzen und Lichterketten an den Fenstern. Mit dem Duft von Tannenzweigen und mit Zimt. Mit glänzenden Augen. Mit einem Kind.
    Ich tastete nach Alex’ Hand. Sie war warm und schloss sich um meine. In diesem Augenblick hatte ich das untrügliche Gefühl, dass alles gut werden würde.
    Ein Lastwagen hupte. Ich öffnete die Augen.
    Der düstere Alte schaltete das Radio aus, dann einen Gang herunter, bevor er losraste. Der Lastwagenfahrer schüttelte den Kopf, als wir in einem gewagten Überholmanöver an ihm vorbeizogen.
    Am Flughafen Tegel herrschte Hochbetrieb. Der Mercedes glitt die steile Kurve hinauf und kam
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