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Schneekind

Schneekind

Titel: Schneekind
Autoren: Silke Nowak
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lautlos vor der Haupthalle zum Stehen. Die Maschinen stiegen im 10-Minuten-Takt in die Luft, um die zerstreuten Familien noch rechtzeitig zum Fest zusammenzubringen. Die Taxis reihten sich aneinander, ein cremefarbenes nach dem anderen, zwischen denen unser schwarzes fremd hervorstach. Doch unser Fahrer schien bekannt zu sein. Die meisten Kollegen nickten ihm zu. Galant öffnete er mir die Tür. Alex hatte ihn bereits bezahlt, doch er schien auch von mir etwas zu erwarten. Verwirrt kramte ich in meiner Handtasche und gab ihm seinen Obolus.
    „Ein frohes Fest“, rief er uns hinterher und lachte.
    Ich drehte mich nicht um. Ich folgte Alex in die Haupthalle unter die riesige Anzeigetafel, um abermals Terminal und Check-in-Schalter zu überprüfen. Es war noch eine alte Fallblattanzeige. Als ich nach oben blickte, begannen sich die Blätter plötzlich zu drehen. Es gab ein Rauschen wie bei einem Vogelschwarm, der davonfliegt, rastlos und voller Sehnsucht. Als die Blättchen wieder stillstanden, rieb ich mir die Augen. Unser Flug war verschwunden, als wäre er gestrichen worden.
    „Schalter acht“, sagte Alex und schritt mit dem Kofferwagen und dem Lächeln eines Menschen voran, der vom Schicksal begünstigt worden war. Der wabenartig angelegte Terminal A platzte aus allen Nähten, lange Schlangen hatten sich vor den Check-in-Schaltern gebildet und erschwerten den Durchgang. Doch die Wartenden machten Platz, sobald sie Alex sahen. Energisch schritt er auf sie zu; niemand beschwerte sich.
    „Vielen Dank, danke, sehr freundlich“, hörte ich Alex seine Worte nach rechts und links verteilen wie Bonbons.
    Die Menschen hatten ihre Weihnachtsgesichter aufgesetzt. In der Stadt trugen es viele bereits seit Wochen mit sich herum. Insgesamt unterschied ich drei Typen an Weihnachtsgesichtern: Das Modell „Kinderglück“ hatte leuchtende Augen. Meist wurde es von Kindern getragen, die von innen heraus strahlten wie eine Pyramide aus Licht, die aus dem Paradies zu stammen schien oder aus dem Erzgebirge. Unter den Erwachsenen war das Modell „Frohe Weihnachten“ beliebt, eine Mischung aus Hektik und Vorfreude, Einkaufsliste und Gänsebraten, insgesamt harmlos und vorübergehend. Das Modell „Melancholie der Engel“ gefiel mir besonders gut, weil es von schmerzhafter Erinnerung sprach, aber auch von Mut und dem Verlangen nach Glück. Für mich persönlich strebte ich dieses Modell an; mehr erhoffte ich gar nicht. Denn verglichen mit dem Modell, das ich seit fünfzehn Jahren trug, war es die reine Lebensfreude.
    „Phobie natalis domini“ nannte ich meine Störung scherzhaft, die Angst vor der Geburt des Herrn. Frey hatte auch schon von „Angsthysterie“, „Zwangsneurose“ oder „Konversionshysterie“ gesprochen, doch das war mir egal. Seit fünfzehn Jahren besuchte ich ihn zweimal die Woche in seiner Altbauwohnung in Charlottenburg, weil ich seine weißen Haare mochte, das geschnitzte Gesicht mit den warmen, dunklen Augen. Aber vor allem liebte ich seine Stimme, diese tiefe, kehlige Stimme, in die ich bereits ein kleines Vermögen investiert hatte. Meine Krankenkasse sah die Notwendigkeit einer Therapie schon lange nicht mehr als gegeben an; immerhin war ich voll arbeitsfähig, außer an Weihnachten. Ich war nur froh, dass Frey immer das Wort Neurose benutzte, wenn er über mich sprach und nicht das andere, das schlimmere Wort. Psychose.
    „Warte“, flüsterte ich. Meine Stimme war leise, brüchig, doch Alexander hatte sie gehört. Sofort drehte er sich um. Inmitten der Betriebsamkeit des Flughafens lächelte er mich an, als gäbe es nur uns beide auf dieser Welt.
    „Wir geben erst die Koffer ab“, rief er. „Komm.“
    Verwirrt schaute ich mich um. Ich wusste nicht, warum ich ausgerechnet vor dem Laden stehengeblieben war, vor dem ein rot gekleideter Mann Süßigkeiten verteilte. Er hatte weiße, buschige Augenbrauen, er erinnerte mich an Frey, hypnotisiert starrte ich in sein Gesicht und suchte nach Anzeichen von Watte oder Klebstoff, doch seine Verkleidung war gut. Ich starrte ihn an und merkte nicht, wie sich das Gift in meinem Körper ausbreitete.
    Last Christmas I gave you my heart, but the very next day you gave it away ...
    Ich hatte keine Chance. Als ich die Melodie bemerkte, die aus dem Lautsprecher direkt über dem Eingang kam, war es bereits zu spät. Meine Kehle schnürte sich zu. Der Weihnachtsmann reichte mir etwas, ein paar Leute lachten. Kalter Schweiß brach mir aus, etwas stach mir in den
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