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Schneekind

Schneekind

Titel: Schneekind
Autoren: Silke Nowak
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Rücken.
    This year, to save me from tears, I'll give it to someone special, special ...
    Krampfartige Bauchschmerzen überfielen mich von einer Sekunde auf die andere. Panisch suchte ich die Umgebung ab, ich musste mich irgendwo hinsetzten, bevor ich in Ohnmacht fiel. Meine Hände verkrampften sich bereits zu Fäusten, hilflos hielt ich sie vor meine Ohren, um die Worte abzuwehren, die direkt aus der Hölle zu kommen schienen.
    Oooohhhh, oh oh baby ...
    „Anne? Alles in Ordnung?“
    Alex war bei mir, er umfasste meine Handgelenke und zog sie sanft zu sich herab. Er lächelte. Seine blauen Augen suchten meine. Blaue, tiefe Augen, es tat so gut, in sein Gesicht zu sehen.
    A face on a lover with a fire in his heart ...
    Die Musik wurde leiser, schien mir. Die Krämpfe verschwanden ebenso schnell, wie sie gekommen waren. Meine Muskeln entspannten sich, ich zitterte nur noch leicht. Als ich die rechte Faust öffnete, lag ein kleines Herz darin. Es war ein mit Schokolade überzogener Lebkuchen, der mir in diesem Moment wie ein Zeichen für die Kraft unserer Liebe vorkam. „Alles wird gut“, flüsterte Alex in mein Ohr. „Alles wird gut“, flüsterte er und küsste die Tränen von meiner Wange.
    Alex wusste von meiner Angst, und er war stark genug, mit ihr umzugehen. Mitten im Flughafen zog er seine dunkelblaue Cabanjacke aus, und dann auch den Kaschmir-Pullover, unter dem er ein weißes Hemd trug. Er sah mich an, während er den Gurt meines Ledermantels löste, unter dem ich nichts als eine dünne Bluse trug. Jetzt verstand ich. Er sah, dass ich fror. Und tatsächlich war mir kalt. Ich tat ihm den Gefallen und zog seinen Pulli über, umständlich, damit meine Frisur nicht ruiniert wurde, und schlüpfte wieder in den Ledermantel. Schnell wurde mir wärmer, ich sah aber aus wie eine Presswurst.
    „Ist es vorbei?“, fragte er, nahm das kleine Lebkuchenherz, das ich immer noch in meiner Hand hielt, und aß es auf.
    „Mein kleines Herz“, lachte er. Das war typisch Alex. Er konnte unglaublich zärtlich sein und im nächsten Moment einen Witz machen, überhaupt fiel es ihm viel einfacher als mir, aus Stimmungen und Pullovern hinein und wieder hinauszugelangen.
    „Dort geht es schneller“, sagte Alex und ging auf den Schalter der Ersten Klasse zu, obwohl wir Economy gebucht hatten. Beruflich flog er immer Business Class, und so vermochte er, sicheren Schritts auf die perfekt geschminkte Dame hinter dem Schalter zuzugehen. Allein die Vorstellung, an ihrem eisigen Lächeln abzuprallen, fand ich dermaßen unangenehm, dass ich lieber die Wartezeit in Kauf genommen hätte. „Deine Angst, abgewiesen zu werden, sitzt dermaßen tief, dass sie dich in ganz normalen Alltagssituationen behindert“, hörte ich Frey. Nach über zehn Jahren Therapie waren seine Kommentare längst zu einem festen Bestandteil meiner eigenen Gedankenwelt geworden, was Alex zu dem Vorschlag verleitet hatte, das Geld für die Sitzungen „gewinnbringender“ in eine Eigentumswohnung zu investieren: „Wenn du ohnehin weißt, was er sagt.“
    Es war schwierig, Alex zu erklären, dass es mir weniger um die Inhalte ging als um die Stimme und das Gefühl, in Frey einen Vertrauten gefunden zu haben, einen Mitwisser. Kein Begriff der Welt – schon gar nicht der der „Übertragung“ – durfte mir dieses Gefühl zerstören. Ich und Frey, so schien es mir manchmal, wenn ich nach einer sehr intensiven Sitzung nach Hause kam, wir waren die Überlebenden eines Krieges, von dem sonst niemand wusste.
    „Gibst du mir deinen Ausweis?“ Alex machte sich bereit. Vor uns stand nur noch eine ältere Dame, neben ihr ein süßes Mädchen, einmal Modell „Frohe Weihnachten“ und einmal „Kinderglück“.
    Ich reichte Alex meinen Ausweis und konzentrierte mich auf den Inhalt meiner Handtasche.
    Alex und ich hatten uns ein Jahr zuvor im November kennengelernt. Er kam gerade von einer komplizierten Herzoperation, ich von einer anstrengenden Geburt. Dass es ausgerechnet der 11.11. war, nahmen wir als ein gutes Zeichen. Im darauffolgenden April zogen wir bereits zusammen und dann – wieder am 11.11. – hatten wir uns verlobt. Unsere Hochzeit war für das kommende Jahr geplant. Ich hatte Alex zu nichts gedrängt, vor allem nicht zu dem Besuch bei seiner Familie. Im Gegenteil: Den ganzen Advent über hatte mich Alex angefleht, über die Weihnachtsfeiertage doch mit zu seiner Familie zu kommen.
    „Zweimal nach Stuttgart“, sagte er und schob die Personalausweise über
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