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Schneekind

Schneekind

Titel: Schneekind
Autoren: Silke Nowak
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nicht“, sagte sie, bevor sie sich in den Lotus-Sitz verabschiedete.
    „Meine Damen und Herren, wir sind jetzt bereit zum Einstieg. Ich möchte zuerst die Passagiere der Kategorie A bitten ...“ Es war die Dame vom Erste-Klasse-Schalter, die in das Mikrophon sprach. Ihre Stimme war so glatt wie ihr Gesicht.
    Die Poliklinik für Frauenheilkunde und Geburtshilfe des Universitätsklinikums Dresden hatte Alex knapp zwei Wochen zuvor zu einem Vortrag eingeladen; es war ausgerechnet Freitag, der 13. Dezember gewesen. Beim anschließenden Empfang kam die 62-jährige Leiterin der Hebammen – sie hieß Daniela Wächter – ums Leben. Sie war grauenhaft erstickt. Mit blau angelaufenem Gesicht hatte sie sich immer wieder an den Hals gegriffen, doch alle Versuche und Wiederbelebungsmaßnahmen scheiterten. Ihr Todeskampf hatte etwa eine halbe Stunde gedauert.
    Später fand man auf dem Dienstplan der Hebammen einen Zettel: Wie einer sündigt, so wird er bestraft, stand darauf. Ich hatte die arme Frau zwar nicht direkt gesehen, aber ich sah ihre Todesangst in den Gesichtern der Umstehenden gespiegelt, fortgesetzt und vervielfacht. Es war, als trommelte jemand von innen gegen die Fensterscheibe eines Aquariums, in dem er ertrinkt.
    Pass auf. Alex und Nadine. Als ich Alex gestern Nacht auf Nadines Verhalten ansprach, meinte er, es könnte daran liegen, dass sie beide mal etwas miteinander gehabt hatten. Warum er das erst jetzt erzählte? Im Grunde sei ja nichts gewesen, nach ein paar Wochen habe man sich „in gegenseitigem Einvernehmen“ getrennt, erzählte Alex. Langsam begann ich zu verstehen. Warum hatte Nadine auch nie etwas davon gesagt? Vielleicht hätte ich es ihr dann anders – behutsamer – beigebracht.
    Ich musste mit ihr sprechen, sobald ich wieder in Berlin war.
    Niemand durfte mein Glück beschmutzen. Das Schicksal hatte Alex und mich zusammengeführt; denn genau betrachtet war es so unwahrscheinlich wie ein Lottogewinn gewesen, dass ausgerechnet Alex meinen Weg gekreuzt hatte. Alexander war meine Chance auf ein besseres Leben – und ich würde sie ergreifen.

2. Kapitel: Der Mittag des 24. Dezembers
    „Das ist phantastisch“, stammelte ich und blickte gebannt aus dem Fenster unseres Mietwagens.
    Ich neigte nicht zu Übertreibungen. Nach den grauen Flächen in Berlin kam mir diese Landschaft geradezu irreal vor in ihrer Schönheit: Vor uns lag ein wildromantisches Tal, durch das die Donau floss, rechts erhob sich eine beeindruckende Felsformation, auf der ein Schloss thronte, mächtig, würdevoll und sanft. Ich rieb mir die Augen. Die Sonne glitzerte auf dem weißen Schnee. Alexander hatte mit keinem Wort erwähnt, in welche Märchenkulisse er mich entführen würde.
    „Was ist das für eine Stadt?“, fragte ich.
    Vom Stuttgarter Flughafen aus waren wir anderthalb Stunden gefahren. Entgegen Alexanders Befürchtung waren die Straßen trocken gewesen, abgesehen von ein paar vereisten Flächen auf der Schwäbischen Alb.
    „Das ist Sigmaringen. Meine Mutter stammt aus der Gegend.“ Alexander steuerte den Wagen über eine Brücke in die andere Hälfte der Stadt. Unter uns floss die Donau. „Hier habe ich meine Kindheit verbracht. Nach Papas Ruhestand sind meine Eltern wieder hergezogen.“
    Meine Mutter. Papa. Kindheit . Es war seltsam, mit Alex hier zu sein. Obwohl in Berlin an jeder Ecke Denkmäler und Museen standen, war es im Grunde eine geschichtslose Stadt, zumindest für all diejenigen, die wie ich mit Anfang oder Mitte 20 in die Hauptstadt zogen. Die deutsche Geschichte mit ihren Kriegen und Verbrechen fühlte sich für mich, die ich nach Berlin kam, um zu vergessen, leicht an gegenüber der eigenen Biographie.
    In Berlin habe ich Alex nie „Papa“ sagen hören.
    Ich presste mich in den warmen Autositz und versuchte, mich auf das zu konzentrieren, was ich sah: ein Einkaufszentrum, Takko, Lidl, dm. Gegenüber ein historisches Gebäude, davor ein paar Fahnen. Ein Bahnübergang. Ein kleines, gelbes Hexenhäuschen. Fachwerkhäuser. Dann sah ich wieder das Schloss, es türmte sich direkt vor uns in die Höhe.
    „Wie alt ist das?“, fragte ich.
    „So wie es jetzt dasteht gute 100 Jahre. Urkundlich erwähnt wurde der Vorläufer – eine Burg – aber bereits im 11. Jahrhundert und wahrscheinlich haben sogar schon die Römer auf diesem Felsen über der Donau residiert.“ Alex hielt an einer Ampel. „Die Familie der Hohenzollern zog dann irgendwann im 16. Jahrhundert ein und machte aus der
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