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Schneekind

Schneekind

Titel: Schneekind
Autoren: Silke Nowak
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dich?“
    Alexander zuckte mit den Schultern. „Ich komme überall klar.“ Plötzlich nachdenklich fügte er hinzu:
    „Aber manchmal, wenn ich zurückkehre, spüre ich die Höhen und Tiefen dieser Landschaft.“
    Seine rechte Hand wanderte meinen Schenkel nach oben. „Ich spüre sie in mir“, sagte er heiser. „Verstehst du, was ich meine?“
    „Hm.“ Ich spürte den Druck seiner Hand. Es wunderte mich, dass Alex so empfand. Ich kannte ihn als einen ausgeglichenen Menschen, der weder über Höhen und Tiefen, geschweige denn über Abgründe verfügte.
    Das Anwesen der Familie Marquard wurde von zwei Kameras bewacht. Ich sah ein Schild mit der Aufschrift privat, dann ein schmiedeeisernes Tor, das sich langsam öffnete, als wir darauf zufuhren. Die Kameras verfolgten unsere Fahrt. Alexander winkte übermütig hinein, während wir passierten. Der Weg teilte sich und führte kreisförmig auf ein Haus zu, dessen Anblick mir den Atem nahm.
    „Hier wohnen deine Eltern?“, fragte ich ungläubig. Alexander hatte nichts dergleichen erwähnt.
    Er lachte glücklich. „In der Tat wurde das Gebäude 1904 als Jagdschloss erbaut, hier in der Gegend nennt man es auch Schloss Albstein, doch ich finde die Bezeichnung reichlich übertrieben. Mit seinen 260 Quadratmetern ist das Haus kaum größer als unsere Wohnung in Berlin. Meine Eltern haben das Haus 2005 komplett saniert. Sie bezeichnen es übrigens als Landsitz.“ Er löste seinen Gurt, das Warnsystem begann zu piepen. „Ich finde, das trifft es ganz gut.“
    Das Gebäude hatte eine glatte, sandsteinfarbene Fassade. Zuerst dachte ich, es seien die Zinnen, die mich irritierten, doch dann merkte ich, dass es der Turm war. Es war ein hoher und schmaler Turm, fast wie ein Schwanenhals.
    Schwanengesang. Ich verscheuchte den Gedanken, indem ich meine Yogahaltung einnahm.
    Schloss Albstein sei Anfang des 20. Jahrhunderts im Jugendstil erbaut worden, erklärte mir Alex, als wir dicht daran vorbeifuhren. Ich blickte hoch. Der Turm schien zu wanken. Plötzlich kamen mir Zweifel an meinem Plan. Dachte ich wirklich, mich ausgerechnet hier von meinen Ängsten kurieren zu können? Ich hatte doch längst gelernt, mit meiner Weihnachtsphobie umzugehen, so schlimm war sie nun auch wieder nicht, ich zog mich am 24. einfach zurück und das war's. Sollte ich alles auf sich beruhen lassen? Doch es war ja längst zu spät.
    Alex fuhr in einen Innenhof, der Schnee knirschte. Ein Stall, ein Nebengebäude und das Haupthaus zingelten uns ein. Noch während wir parkten, kam ein Mann mit einem Hund auf uns zugelaufen.
    „Becky!“ Der Hund sprang kläffend und schwanzwedelnd an Alex hoch.
    Ich kannte mich mit Hunderassen nicht aus, doch ich wusste, dass Becky ein Beagle war. Sie hatte dasselbe Fell wie Garcon, mit denselben weißen, braunen und schwarzen Flecken. Sie hatte dieselben Augen, sogar der schwarze Ring um das rechte Auge war gleich, der mich immer an einen Komiker erinnert hatte.
    „Becky ist die Mama von Garcon“, bestätigte Alex meine Vermutung.
    „O nein“, sagte ich und begann, Becky zu kraulen, die jetzt freudig zu mir übergewechselt war. „Das ist ja furchtbar. Ich meine ...“
    Der Mann nickte. Er schien Bescheid zu wissen. War das Alex’ Vater? Ich weiß nicht, warum ich zögerte. Ich erkannte die Ähnlichkeit und doch wieder nicht. Beide waren groß, und beide hatten ein scharfes, strukturiertes Gesicht mit markanten Augenbrauen. Doch der Mann war viel dunkler als Alex, sein Haar musste früher pechschwarz gewesen sein. Sein Blick war zugleich fest und scheu. Das Gesicht war verschlossen. Kaum vorstellbar, dass er einen Großteil seines Lebens damit verbracht hatte, mit Menschen umzugehen. Er erinnerte mich an einen Wolf.
    „Das ist Karl Anton“, stellte Alex uns vor.
    Erleichtert, dass sich die Begegnung mit Alex’ Vater noch hinauszögerte, reichte ich ihm die Hand. Karl Anton sei nach dem letzten regierenden Fürsten von Hohenzollern-Sigmaringen benannt worden, erklärte mir Alex später, bevor man 1849 die Macht an Preußen hatte abgeben müssen. Als Kind habe Karl Anton zu einer der mächtigsten Familien in der Region gehört, bevor sein Vater nach einem Schicksalsschlag zu trinken begann und sich nicht mehr um das familieneigene Sägewerk kümmerte; die Mutter sei an einer Blutvergiftung gestorben, da war Karl Anton zehn Jahre alt gewesen. Zwei Jahre später wurde das Sägewerk geschlossen. Nur sein Doppelname und die Würde waren ihm geblieben.
    „Ein alter
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