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Schneebraut

Schneebraut

Titel: Schneebraut
Autoren: Ragnar Jónasson
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schienen die Berge greifbar nah. Er hatte die Nachrichten aus Reykjavík wegen der Demonstranten hören und sehen müssen, das alles hatte nicht weit von seiner Wohnung entfernt stattgefunden, die Regierung stand auf wackligen Beinen, es waren geschichtsträchtige Zeiten, er wäre direkt am Puls der Zeit gewesen, hätte das alles live miterleben können, wenn er nicht nach Norden gezogen wäre. Doch nichts davon schien ihn jetzt zu beschäftigen. Diese Ereignisse fanden ganz woanders statt – beinahe wie in einer anderen Welt.
    Er schaute über den Fjord, konnte ihn sich an einem spiegelglatten und sonnenreichen Sommertag vorstellen. Sog die Luft tief ein und atmete sie aus.
    ***
    Ari ging auf dem Weg nach Hause am Rathausplatz vorbei und traf dort auf Pálmi.
    Pálmi nickte ihm zu, wollte seines Weges gehen, blieb dann aber stehen und sagte mit leiser Stimme: »Herzlichen Dank.« Die Worte waren bedeutungsschwer.
    »Keine Ursache. Hat Tómas mit dir geredet?«
    »Ja, gestern Morgen.«
    »Er kommt anscheinend davon, trotz allem.«
    »Das spielt für mich keine Rolle«, sagte Pálmi. »Es war schrecklich, meine Mutter zu verlieren – ich hatte nicht einmal Zeit, mich zu verabschieden, es ging alles so schnell. Es erklärt jedenfalls einiges, falls … falls Kalli das getan hat. Erklärt unter anderem, warum sie so verarmt starb, eine Frau, die nie eine Krone verbraucht hat – und wie Kalli sich diesen Geländewagen leisten konnte.«
    »Tómas hat mit dem Mann geredet, der Kalli das Auto verkauft hat, er hat gestern am späteren Nachmittag mit ihm geredet. Er konnte sich noch gut daran erinnern – der Junge war mit Bargeld gekommen und hat den Wagen an Ort und Stelle bezahlt.«
    Pálmi nickte und sagte dann mit leiser Stimme: »Ihr dürft meinetwegen die Leiche ausgraben, wenn ihr wollt – wenn ihr denkt, dass es euch helfen kann, ihn zu überführen.«
    »Wir werden sehen«, sagte Ari. »Ich schaue morgen Abend bei euch vorbei.«
    Die Premiere des Theaterstücks hatte sich zu einem Großereignis entwickelt – die Tickets waren im Nu ausverkauft. Alle wollten das letzte Werk sehen, für das Hrólfur verantwortlich zeichnete, das Stück, das ihn vielleicht das Leben gekostet hatte.
    ***
    Die Straße nach Siglufjörður war schließlich am späteren Nachmittag am Freitag geräumt worden, und Ari fühlte sich, als ob eine schwere Last von ihm genommen worden sei. Dennoch fiel es ihm schwer, einzuschlafen. Die Gedanken drehten ihre Kreise, er war gespannt auf den morgigen Tag – gespannt, Ugla bei der Premiere zu treffen. Schließlich ging er nach unten ins Wohnzimmer und holte das Buch, das sie ihm geliehen hatte. Das Meisterwerk.
Nördlich der Heide
. Es war ein gutes Gefühl, in Hrólfurs Buch zu blättern, ihm den gebührenden Respekt zu zollen.
    Das Buch entführte ihn unvermittelt in eine Zauberwelt, die Erzählweise und der Schreibstil, und nicht zuletzt die Gedichte,
Linduljóð
, wehmütige Liebesgedichte, und noch viel, viel mehr. Ari legte das Buch nicht zur Seite, bis er es zu Ende gelesen hatte; danach schlief er sofort ein.

43. Kapitel
    Siglufjörður,
    Samstag, 24 . Januar 2009
    Das alte Kino an der Aðalgata erwachte am Abend zu neuem Leben. Es hatte erneut angefangen zu schneien, doch dieses Mal fielen die Schneeflocken schön und samtweich zur Erde hinab.
    Viele Gäste hatten sich aus Anlass des Ereignisses fein herausgeputzt. Vorfreude lag in der Luft. Spannung.
    Ugla spielte großartig, zumindest konnte Ari während der ganzen Vorstellung die Augen nicht von ihr abwenden. Das Stück überraschte ihn, es war besser, als er erwartet hatte. Pálmi hatte augenscheinlich eine beachtliche Begabung auf diesem Gebiet.
    Die Schauspieler wurden dreimal herausgeklatscht, und die Zuschauer erhoben sich schließlich. Ugla schaute unter tosendem Applaus in den Saal. Sie blickte Ari direkt an.
    ***
    Die Premierenparty begann im Anschluß an die Vorstellung; die Stühle im Saal wurden an der Wand aufgereiht, um Platz zu schaffen, und Schüler verteilten Häppchen; alle gaben sich Mühe, dass dieser Abend unvergesslich werden würde.
    Ari und Tómas standen bei der Bühne und redeten mit Pálmi, Rósa und Mads. Nína stand etwas abseits, immer noch mit Krücken und schien auf eine Gelegenheit zu warten, ins Gespräch zu kommen.
    »Wir werden morgen wieder nach Reykjavík fahren«, sagte die alte Dame auf Englisch. »Endlich können wir nach Hause fahren. Es war ein unvergesslicher Besuch – und es war wirklich
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