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Schneckenmühle

Schneckenmühle

Titel: Schneckenmühle
Autoren: Jochen Schmidt
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Asse, das wäre eine sichere Sache. «Von jedem Hund ’n Dorf», das ist eigentlich immer der Fall. Grand Hand nimmt man geschlossen auf, behauptet Marko und sagt «18», bevor ich überhaupt meine Karten geordnet habe. Heimlich einen Buben nach unten mischen? Oder gleich alle vier? Aber es wird ja abgehoben, allerdings mindestens vier Karten! Draufklopfen, wenn man nicht abheben will, das ist aber nach den Regeln des Altenburger Skatgerichts nicht erlaubt, die Marko als schwarze Broschüre mitgebracht hat. Wir «klopfen» trotzdem, so machen es die richtig alten Männer, solche, die nur noch Arme haben, wie der Rentner im Rollstuhl an der Bucher Currybude. Es ist immer ein besonderes Gefühl, einen Brauch zu pflegen, der von den Oberen in Jahrhunderten nicht auszurotten gewesen ist.

3 Ich sitze auf meinem Koffer, als wir in Pirna vor dem Bahnhof auf den Bus warten, einen Ikarus, der schließlich in einer blauen Abgaswolke hält. Im Bus wird mir schlecht, deshalb muß ich ganz vorn sitzen, hinter dem Fahrer, und in die Ferne gucken. Am schlimmsten ist der Platz über den Radkästen, weil es da am meisten vibriert. Ich atme nur durch den Mund und horche in mich hinein. Ein Atemzug durch die Nase wäre zuviel. Die lauwarme Flüssigkeit schießt mir dann aus dem Rachen, wobei ich mich immer wundere, wie unversehrt vieles noch aussieht,nach der langen Zeit im Bauch. Das Essen hat mich von innen gesehen, das würde ich auch gerne einmal.
    Der Fahrer hält das große Buslenkrad fest, mit dem man so praktisch die Hebelgesetze anwenden kann. Neben mir sitzt ein Mädchen, das wir in Dresden eingesammelt haben, offenbar ist sie in diesem Jahr «der Sachse». Einer ist immer dabei, vom sächsischen Partnerbetrieb. Wegen seiner Sprache bleibt der Sachse Außenseiter. Es ist mir unangenehm, neben einem Mädchen zu sitzen, noch dazu trägt sie einen Pionier-Anorak, mit dem aufgenähten Fackel-Symbol der Pionierorganisation, dessen Flammen wie drei Zungen aussehen. Es gefällt mir, daß die Fackel aus den Buchstaben «J» und «P» gebildet ist, das ist schon fast ein bißchen wie bei den Graffitis in New York. Darunter steht «Seid bereit!» In meinem Kopf dreht sich der Gedanke, daß es sich nicht «Seit bereid!», «Seit bereit!» oder «Seid bereid!» schreibt. Diese Anoraks gibt es verbilligt zu kaufen, aber nur Überzeugte oder Asoziale ziehen sie an. Das unangenehme Gefühl, neben dem Mädchen aus Sachsen zu sitzen, kommt nicht gegen meine Apathie an, denn ich vermeide jede Regung, um meinen Magen nicht zu reizen. Nachdem einigen Mädchen erst zu heiß war, ist ihnen jetzt zu kalt. Wulf stemmt sich gegen die Deckenklappe, man kann sie bei Ikarus-Bussen in drei Stufen verstellen, hinten hoch, vorne und hinten hoch oder nur vorne hoch, so daß vom Luftstrom eine dicke Scheibe abgehobelt und in den Bus geschoben wird. Aber unsere Klappe klemmt. Ich sehe in die Ferne und versuche, an nichts zu denken und nur den Bonbon zu lutschen, den mir die Sani-Tante gegeben hat. Am Straßenrand steigt der Wald steil nach oben, und auf der anderen Seite fließt ein Bach durchs Tal. Kurve für Kurve wird mir übler. Dieanderen kreischen laut, wenn sie durch die Fliehkraft zur Seite gepreßt werden, es ist eine Gelegenheit, den Nebenmann in den Mittelgang zu schubsen. Die Sani-Tante fragt: «Mußt du spucken?» Von diesem altmodischen Wort wird mir noch übler. Die Sani-Tante gehört dieser freudlosen Welt derer an, die schon vor dem Krieg gelebt haben, als das Spielzeug aus Blech war und wie selbstgemacht aussah. Sie hat bestimmt noch Schiebewurst gegessen und sagt «Julei» statt «Juli». Sie läßt den Fahrer halten. Ich steige aus und stelle mich mit dem Rücken zum Bus, um mich im Straßengraben in den Farn und den wilden Rhabarber zu übergeben. Unter den Augen aller Kinder bringe ich aber nur einen dünnen, bitter schmeckenden Speichelfaden heraus, der mir zwischen die breit auseinandergestellten Füße tropft. Einer Ameise ist durch die Flüssigkeit der Weg versperrt, sie dreht ab, sieht aber nicht ein, daß es hier nicht weitergeht, und läuft immer wieder dagegen. Ich bin für sie so etwas wie das Schicksal. Seltsam, daß ich ausgerechnet dieses Stück Straßenrand jetzt so genau betrachte, einen ganz zufälligen Ausschnitt der Welt, ich nehme mir vor, ihn mir zu merken. Brennesselblätter kann man in der Mitte anfassen, ohne daß es wehtut, daran muß ich denken.
    Im Bus setze ich mich wieder neben die Sächsin. Sie dreht sich zu
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