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Schneckenmühle

Schneckenmühle

Titel: Schneckenmühle
Autoren: Jochen Schmidt
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mir und reicht mir einen Ost-Bonbon, bei dem das Papier immer mit dem Bonbon verwächst, so daß man ihn gleich mit dem Papier lutscht und es später krümelweise mit der Zunge zusammensucht und ausspuckt. Ich will die Krümel aber nicht in der Hand halten oder in den Bus spucken, deshalb schiebe ich sie hinter das Zahnfleisch, wo ich manchmal ein Pfeffi verstecke, wenn die Lehrerin oder die Katechetin von der Christenlehre meinen Mund kontrolliert.Der Bus hält vor dem Steinhaus, die Koffer werden ausgeladen. Wir wollen so schnell wie möglich zu den Holzbungalows, die auf Steine aufgebockt sind, man könnte sich drunter verstecken, aber dort ist sicher alles voller Käfer und Schnecken. Manche machen unterwegs Pause und setzen sich auf ihre schweren Koffer, andere haben von den Eltern nicht so viel Wechselsachen eingepackt bekommen und haben deshalb weniger Mühe. Sie drehen ihre Schlüpfer gegen Ende der Zeit einfach um. Meine Beine sind noch wacklig, aber es geht darum, ein gutes Bett zu ergattern, ich beeile mich also, den schimmelfarbenen Koffer mit dem goldenen Aufkleber «Echt Vulkanfiber» zum Bungalow zu schleppen. In einem Schweinslederanhänger sind hinter dem Sichtfenster Name und Adresse zu lesen, auf der Rückseite des eingeschobenen Zettels steht sogar noch mein Name mit unserer Adresse im Altbau. Das war eine erregende Entdeckung für mich, als ich einmal aus Langeweile den Zettel rausgezogen habe. Das Wort «echt» hat einen besonderen Klang, auch wenn ich gar nicht weiß, was Vulkanfiber ist, aber es klingt sehr stabil, weil es entweder Vulkanen standhält oder mit Hilfe von Vulkanen hergestellt wurde. Bei uns beschäftigt sich die Forschung damit, für möglichst jedes Material einen Ersatz zu entwickeln. Wobei mir Kunsthonig eigentlich besser schmeckt als richtiger. Die vielen Kunstfasern mit den interessanten Namen «Wolpryla», «Regan», «Silastik», «Grisuten», «Viskose» und «Dederon» («Der Faden vollendeter Verläßlichkeit», stand in Rostock an einer Hauswand.) Und ich habe einen Koffer aus «Echt Vulkanfiber», den werde ich mein ganzes Leben benutzen können, einen Koffer habe ich also schon mal.
    Jetzt entscheidet sich, mit wem man das Doppelstockbett teilen wird, ob man oben oder unten schläft. Unten hat man die Füße vom Obermann im Gesicht, dafür zieht die schlechte Luft nach oben ab. Die Keilkissen werden herausgezerrt und auf den Metallspind geworfen. Wer vom Bett aus an seinen Spind reicht, hat einen Vorteil, weil er nicht aufstehen muß. Es ist auch gut, am Fenster zu schlafen, jedenfalls nicht zu nah an der Tür. Andererseits möchte man nicht am Rand liegen, zwischen zwei anderen Betten fühlt man sich doch sicherer. Die unten Liegenden befestigen ihre Taschenlampen an den quietschenden Metallfedern und freuen sich, wie praktisch das ist, daß sie jetzt ein Leselicht haben. Jeder denkt: Das ist mein Reich, hier bestimme ich, aber man guckt auch gleich mal zu den anderen, wie es bei denen ist.
    Wir müssen unsere Betten selbst beziehen, das Laken wird hinter das Metallgestell geklemmt. Bei der Armee werden wir ein Lineal benutzen müssen und die Kästchen vom blaukarierten Bezug abzählen. Ich packe meinen Koffer aus, sogar an Bügel hat meine Mutter gedacht. Oben liegt ein Durchschlag vom «Sachenverzeichnis», mit Schreibmaschine getippt:
    1 Anorak
    2 Windjacken
    7 Paar Kniestrümpfe
    1 Campingbeutel
    3 Frotteehandtücher
    2 Päckchen Quick Polish
    …
    In allen Kleidungsstücken steht mein Name, mit Kugelschreiber auf Pflaster geschrieben oder hineingestickt. Auch die Seifendose und die Hülle für die Zahnbürste, die ich nur im Ferienlager benutze, sind mit einem beschrifteten Pflaster beklebt. In manche Pullover und Hemden ist «Al Kouffi» eingestickt, die stammen von einer Freundin meiner Mutter aus Bremerhaven, die einen Araber geheiratet hat und einmal im Jahr abgelegte Sachen ihres Sohns schickt und das Paket mit Werbegeschenken der Firma «Nordfisch» auffüllt, für die sie arbeitet, Zettelblöcke und Kugelschreiber, die mir dann zu wertvoll zum Benutzen sind. Daß das mein Name ist, «Al Kouffi», weil mein Vater Araber ist, so was wie «Al Capone», leider findet sich keiner, der mir das lange glaubt. Ich kann einfach nicht gut lügen.
    Noch versucht jeder, die anderen zu übertönen, es ist eine große Aufregung unter uns ausgebrochen, an allem wird gerüttelt, um zu sehen, ob es abgeht, die Fenster werden ausgehängt, schade, daß es keine Kellerluke
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