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Schmidts Einsicht

Schmidts Einsicht

Titel: Schmidts Einsicht
Autoren: Louis Begley
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überflogen. Jetzt holte er sich die Zeitung aus der Küche, begann zu lesen und fand bald die einzige halbwegs passable Nachricht: Die Neuauszählung in Minnesota hatte wieder einen Vorsprung von Al Franken vor dem jammervollen Norm Coleman ergeben; aber es handelte sich nur um fünfzig Wählerstimmen. Neuauszählung! Schmidt hatte gehofft, das Wort nie wieder hören zu müssen, nachdem die Hinterhältigkeit, die bis zum Obersten Gerichtshof hinaufreichte, W. ins Weiße Haus gebracht hatte. Sonst nur Geschichten voller Horror und Verwirrung. Am Tag zuvor hatte die Hamas aus dem Gazastreifen eine Rakete abgeschossen, die fast 30 Kilometer weit in israelisches Gebiet flog und eine Mutter von vier Kindern tötete. Nach UN-Berichten hatten die Israelis bei ihrem Angriff auf diesen unseligen Streifen Land bereits dreihundertsiebzig Palästinenser getötet, darunter zweiundsechzig Frauen und Kinder. Was bewiesen diese Zahlen, wenn nicht, daß es vergeblich war, Palästinenser in großer Zahl zu töten? Ihren Kampfwillen hatte man damit kaum gebrochen. Aber versuchte die Hamas, israelische Frauen und Kinder zu schonen? Dazu äußerte sich die Times nicht. Würden Hamas und Hisbollah Ruhe geben, bevor sie die Israelis aus Israel vertrieben und ins Meer gejagt hätten? Wahrscheinlich nicht, aber wenn sie die Israelis stark genug bedrängten, würden diese die Bombe werfen. Wo sie abgeworfen würde, war eine gute Frage, auf die mit Sicherheit nicht einmal Mike Mansour eine Antwort wußte. Und wenn die Iraner die Bombe ebenfalls besaßen, dann würden sie sicherlich versuchen, sie auf Tel Aviv zu werfen, für die Juden eine Katastrophe im Ausmaß von Auschwitz, worauf die Israelis Teheran und die Insel Kharg auslöschen und damit eine Kettenreaktion auslösen würden, die alle von iranischem Öl abhängigen Länder ins Chaos stürzen mußte. Würde nicht jemand – die Russen, die Pakistanis, die Chinesen oder sogar die Nordkoreaner – den iranischen und arabischen Freunden zu Hilfe kommen? Womit? Schmidt gab auf. Er wußte esnicht, und er war kein Leitartikler der Times , mußte also auch nicht so tun, als ob. Er konnte nur hoffen, daß er tot war, bevor die Antwort sich zeigte. Ein anderer Artikel berührte ein Thema, das seinem alten Fachgebiet näher war. Er handelte davon, daß die Börsenaufsichtsbehörde an ihrer Verteidigung der mark - to - market -Vorschrift festhielt, die verlangte, daß Finanzinstitute täglich die Aktiva in ihren Bilanzen nach dem Marktwert notierten, also nach dem, was ein Käufer an dem Tag für sie zu bezahlen bereit war. Schmidt war felsenfest überzeugt, daß die Banken das Volk bis aufs Hemd ausplündern würden, sollte diese Regel ausgesetzt oder abgeschafft werden. Jeder, der je mit ihnen zu tun gehabt hatte, war zu diesem Schluß gekommen. Es gab jedoch ein vernünftiges Gegenargument, das der Journalist nicht erwähnt hatte. Es besagte, daß Wertpapiere nicht zwangsläufig wertlos waren, nur weil zur fraglichen Zeit kein Kaufinteresse an ihnen bestand. Sollten sie in den Bankbilanzen wirklich mit dem Wert null geführt werden? Das wäre so, als sagte man, ein Haus in einer schattigen Straße in Scarsdale, das jemand erst vor drei Jahren für zwei Millionen Dollar gekauft hatte, sei plötzlich keinen Cent mehr wert, nur weil der Dow abgestürzt war und sich momentan keine Käufer finden ließen. Wieder ein Rätsel, das Kopfschmerzen bereitete. Womöglich konnte Mike Mansour es lösen. Vielleicht bot sich eine Gelegenheit, ihn am Abend beim Essen zu fragen. Dieser großartige Financier war nie um eine Überzeugung verlegen, und nie hielt er damit hinter dem Berg. Man konnte sich mokieren über Mansour und die Art, wie er sein Geld machte und austeilte, aber wenn er Einschätzungen zu Finanzfragen abgab, war es geraten, gut aufzupassen. Diese Lektion hatte Schmidt im Oktober 2007 gelernt, als Mike ihm riet, Aktien zu verkaufen und statt dessen Schatzbriefe und Gold zu erwerben.
    War er eingenickt? Wie lange war sie schon in seinem Zimmer? Erst als sie sagte, Hallo, hier ist die Dame aus Paris, nahm er sie bewußt wahr. Alice konnte sich so lautlos bewegen wie seine Katzen, wie seine verlorene Carrie, und stand nun vor ihm, lächelnd, barfuß, die Fußnägel mit einem Rot lackiert, das er herzergreifend kühn fand, in einem sandfarbenen Trainingsanzug, dessen Material, feinstes Kaschmir, sich so weich anfühlte, daß er glaubte, ihre nackte Haut zu spüren, als er sie in die Arme nahm. Er
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