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Schmidts Einsicht

Schmidts Einsicht

Titel: Schmidts Einsicht
Autoren: Louis Begley
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begrenzte Menge der geschilderten Greuel aufnehmen konnte; er glaubte, gerade jetzt nicht noch eine Szene der Demütigung ertragen zu können. Kannten die adretten, freundlichen Ukrainer, die ihn im Life Center von Kiew begrüßten, diese grauenvolle Geschichte – was sie erzählte, mußte doch auch von ihren Großvätern oder sogar ihren Vätern handeln? Am Abend zuvor hatte er vor dem Einschlafen gelesen und das Buch nach der Szene weggelegt, in der ein alter Bolschewik, ein hochrangiger Kommissar, aus Gründen verhaftet wird, die er nicht versteht. Ein viel jüngerer Kommissar schlägt ihn wieder und wieder, nur um den Willen des Alten zu brechen. Jetzt konnte Schmidt allenfalls seine Gedanken schweifen lassen, während er dem Klassikprogramm des Musiksenders in Connecticut lauschte, auf den sein Radio immer eingestellt war. Alice zog ihn heftig an, ja, aberwas er für sie empfand, ging weit über sexuelles Verlangen hinaus. Es war Liebe, die eines alten Mannes freilich. Er wollte sie immer an seiner Seite haben. Er hatte ihr die Ehe angetragen, und heiraten wollte er sie wirklich, da er sich von einer Ehe Stabilität versprach, obwohl die Erfahrung das Gegenteil lehrte, das wußte er wohl. Dennoch hatte er ihr erklärt, er sei bereit, mit ihr zusammenzuleben, wo immer sie wolle und zu jeder Bedingung, die sie stellen mochte. Er hatte sich ihr auf der Basis einer Probezeit mit Zufriedenheitsgarantie angeboten, mit der Versicherung, bei Nichtgenügen werde er sich ohne Widerrede davonschleichen. War es fair, war es vernünftig, einer Frau, die dreiundsechzig war, die Ehe oder eine andere Form des Zusammenlebens mit einem Mann anzutragen, der gerade achtundsiebzig geworden war? Es gab keine andere Antwort als ein Nein auf diese Frage, aber nein wollte er nicht als Antwort gelten lassen, er war sogar ernsthaft der Meinung, daß die Argumente gegen seinen Heiratsantrag womöglich überschätzt würden. Er hatte sie in aller Deutlichkeit auf die Risiken hingewiesen, die ohnehin auf der Hand lagen, und er war noch weiter gegangen: Er hatte ihr sogar gesagt, daß er ihr abraten würde, wäre er ihr Vater oder ihr Bruder. Trotzdem lag die Entscheidung bei ihr. Was seinen eigenen Standpunkt betraf, gab er sich keinen Illusionen hin. Auch wenn eine Heirat das war, was er sich sehnlichst wünschte, wußte er trotzdem genau, welche Strafe eine scheiternde Ehe bedeutet. Im schlimmsten Fall lebt man mit einer Mitgefangenen, die langsam zum Feind wird, und noch im Normalfall mit einem mehr oder weniger unersprießlichen Menschen. Überdies heißt Zusammenleben, daß ein gewisser Grad an körperlicher Intimität vom Partner erwartet wird. Schlimm genug für eine Frau, wenn sie sich den Liebesdiensten eines unattraktiven alten Knackers unterziehen muß – Schmidt hieltalle alten Kerle, sich selbst nicht ausgenommen, für grundsätzlich unattraktiv –, und noch schlimmer für den Mann, von dem erwartet wird, daß er die Initiative ergreift und ab und an sogar das Wunder der Penetration noch einmal vollbringt. Eine innere Stimme erinnerte Schmidt daran, daß Scheidungsgesetze diese Probleme im Griff hatten. Man konnte sich im voraus darauf einigen, daß der unglückliche Ehepartner Fersengeld geben durfte. Vielleicht waren diese Fragen endgültig erst post factum zu beantworten; hier paßte die Warnung: Weitergehen auf eigene Gefahr.
    Schmidt machte abrupt Schluß mit diesen Grübeleien. Sie war schön, wohlriechend und begehrenswerter als alle anderen Frauen, die er kannte, mit einer Ausnahme: Carrie, Hekate persönlich, die in Gestalt einer zwanzigjährigen puertoricanischen Kellnerin zu ihm gekommen war. Zwei lange Jahre, die sich unauslöschlich jedem Nerv in seinem Körper eingeprägt hatten, war sie seine Geliebte gewesen. Und dann endete die Idylle, wie nicht anders zu erwarten. Carrie fand einen blonden Riesen, sanft wie ein Lamm, und ging zu ihm, mit Schmidts Segen, schwanger mit einem Kind, über dessen Vater Ungewißheit herrschen würde. Und Alice: Vielleicht kein Zaubergeschöpf der Nacht, aber sein Typ! Und wer wollte sagen, daß das Spiel den Einsatz nicht lohnt? Die Strafe für Feigheit kannte er nur zu gut: grämliche Einsamkeit und Verzweiflung. Seine Befürchtungen, er sei unfair Alice gegenüber, waren dummes Zeug. Sie war erwachsen. Vor einem Augenblick hatte sie noch gefragt, ob sie nach ihrem Bad zu ihm kommen könne. Das war kaum mißzuverstehen.
    Beim Frühstück hatte er die ersten Seiten der Times kaum
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