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Schmidts Einsicht

Schmidts Einsicht

Titel: Schmidts Einsicht
Autoren: Louis Begley
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Familie aus den Augen, als Tim die Leitung des Pariser Büros der Kanzlei übernahm und Alice ihm natürlich mit den Kindern dorthin folgte. Tim zeigte sich kaum noch im New Yorker Büro, viel seltener als seine Vorgänger, die alle eifrig darauf geachtet hatten, in Kontakt zu bleiben, und deshalb regelmäßig an Kanzleibesprechungen in New York teilnahmen und in den Fluren nach offenstehenden Türen suchten, die anzeigten, daß ein Besuch nicht unwillkommen wäre. Es war keine schlechte Idee, den Finger am Puls der Kanzlei zu haben und sicherzugehen, daß sich nichts zusammenbraute, dessen Folgen für das Pariser Büro womöglich ungünstig waren.
    So kam es, daß er Alice seit mindestens vierzehn Jahren nicht mehr gesehen hatte, als er sie im April 1995 in Paris aufsuchte, um ihr nach Tims erschreckendem, vollkommen unerwarteten Tod persönlich sein Beileid auszusprechen. Er fand sie noch schöner als damals: Sie sah fraulicher aus, weicher und weniger unnahbar. Sie war nicht mehr knabenhaft, sondern erwachsen. Ganz überraschend – unsinnig, wie er in späteren Augenblicken der Bitterkeit fand – hatte er sich sofort in sie verliebt, ohne eine einzige Umarmung, ohne daß seine Lippen die ihren berührt hätten. Eine späte Jugendliebe, könnte man sagen; er glaubte, daß er sich selbst mit verbundenen Augen rettungslos in sie verliebt hätte, nur auf ihr Lachen hin. Und jetzt, nach dreizehn verlorenen Jahren seit jener Begegnung im April schien ihm seine Liebe ungebrochen. Wenn Glück für ihn zu haben war, dann in Gestalt einer Zukunft mit Alice.
    Sie reiste mit leichtem Gepäck wie ein junges Mädchen, mit einem einzigen kleineren Koffer, darauf rote Aufkleber, damit er auf den Gepäckbändern der Flughäfen leicht zuerkennen war, und mit einer wurstförmigen Tasche, deren Reißverschluß sie nicht zugezogen hatte, so daß allerhand französische Illustrierte, Zeitungen und Papiere, die aussahen wie Manuskripte, herausschauten. Er brachte die Gepäckstücke hinauf und zeigte Alice das Zimmer, in dem sie wohnen sollte. Es war Charlottes Zimmer gewesen, hatte viel Sonne und Erkerfenster mit Blick auf den Rasen, den Garten an der Rückseite des Hauses und den hinter dem Grundstück liegenden großen Salzwasserteich mit den Wildgänsen, die keine Zugvögel mehr waren. Überrascht von dieser Schönheit, bat Alice um eine ausgiebige Führung durch Haus und Garten. Aber zuerst wäre ihr ein Lunch lieb, sagte sie, dann ein Bad und ein ausgiebiger Mittagsschlaf. Nach dem Essen änderte sie ihre Meinung und fand, es sei besser, den Rundgang zu machen, bevor es dunkel werde. Als sie damit fertig waren und in der Tür zu ihrem Zimmer standen, sagte er: Dieser Ort gefällt dir. Vielleicht möchtest du hier leben.
    Sie gab keine Antwort, sondern blieb reglos stehen. Unsicher, ob er richtig geraten hatte, was sie sich wünschte, umarmte er sie. Ihr Mund schmeckte noch nach dem Essen, Haar und Kleider rochen ganz leicht nach Schweiß und trugen Geruchsspuren der Stunden, die sie an Flughäfen und im Flugzeug verbracht hatte. Die unvermittelte Intimität erregte ihn wie etwas Verbotenes. Er küßte sie lange, aber in dem Moment, als er fühlte, daß er hart wurde, trat sie zurück.
    Zeit für mein Bad, sagte sie sehr leise. Wo wirst du sein?
    Hier, sagte er und zeigte auf sein Zimmer genau gegenüber. Ich werde so tun, als würde ich lesen und Musik hören.
    Darf ich dann zu dir kommen?
    Schmidt stellte den Thermostaten für das obere Stockwerk etwas höher und setzte sich in den roten Sessel in seinem Zimmer. Er hielt das Haus gern kühl, manche würden sagen kalt, aber Alice war das Leben in der Kälte eines Holzhauses an der Nordatlantikküste, an dem Windböen rüttelten, noch nicht gewohnt. Auch nicht das Zusammensein mit einem alten Kerl, der sein Leben lang am Heizöl gespart hatte. Auf seinem Nachttisch lagen der unsäglich traurige Roman eines russischen Juden, der in der Zeit der Schlacht bei Stalingrad spielte, und ein Stapel ungelesener Exemplare des New Yorker und der New York Review of Books , die sich seit November angesammelt hatten, als er gleich nach dem Tag der Präsidentenwahl seine Rundreise zu den Life Centers angetreten hatte, die in Mittel- und Osteuropa und in verschiedenen ehemals sowjetrussischen Staaten von Michael Mansours Stiftung, noch immer unter Schmidts Leitung, betrieben wurden. Der Roman war so überwältigend, daß er die Lektüre immer wieder unterbrechen mußte, weil er nur eine
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