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Schmetterlingsjagd (German Edition)

Schmetterlingsjagd (German Edition)

Titel: Schmetterlingsjagd (German Edition)
Autoren: Kate Ellison
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dort gehören wir auch hin», sage ich. Der 96er-Bus taucht auf, er rumpelt den Häuserblock entlang auf uns zu. Hastig reiße ich einen Zettel aus dem Notizheft in meiner Tasche und kritzele meine Adresse darauf. «Holst du mich um acht ab?»
    «Gebongt», sagt er. Der Bus biegt in die Haltestelle ein. Er drückt noch einmal meine Hand, eine lange, warme Sekunde lang. In mir fühlt es sich an, als würde ein Feuerwerk entfacht. Ich steige in den Bus und finde weit hinten einen Platz. Als ich durch das Fenster schaue, steht er immer noch dort. Er salutiert, und der Bus fährt los.
    ***
    Ich habe nur noch knapp eine Stunde, bis Flynt mich abholen kommt, also nehme ich Sapphires Bustier vom Bügel, streiche mit den Fingern über seine glitzernde schwarze Brust und die enge Taille und halte es mir vor dem Spiegel an. Etwas fliegt durch meinen Kopf und sagt einfach ja . Ein Mal. Und ein Mal reicht. Ich ziehe es mir über den Kopf und spüre es um mich herum, und wieder – sind wir beide, die wir uns für unseren ersten Abschlussball anziehen, wahnsinnig nervös.
    Ich durchwühle meinen Schrank und ziehe ein paar Kleidungsstücke hervor, die mir meine Mutter vererbt hat, als es Oren noch gutging, als sie noch glücklich war. Ich habe alte Fotos aus den Siebzigern gesehen, auf denen sie sie trug, als sie noch zur High School ging und ihr das Haar in weichen schwarzen Wellen über den Rücken fiel. Als sie riesige Sonnenbrillen trug und sich Blüten hinter das Ohr geklemmt hatte. Auf einem Schnappschuss, bewegungsunscharf, tanzt sie am Rand der Chesapeake Bay. Bisher habe ich ihre Sachen noch nie getragen: ein weicher schwarzer Glockenrock aus Leinen, den man in der Taille zusammenbindet, mit petrolfarbenen, tropfenförmigen Perlen am Saum, rote Wildlederpumps und ein Schal mit vielen bunten Blümchen darauf, den ich mir locker um die Schultern lege.
    Was mein Vater wohl dachte, als er sie in seinem schicken geliehenen Smoking zum Abschlussball abholte: Ob sein ganzer Körper angenehm zitterte, als er sie sah? Ob er sich jemals hätte vorstellen können, dass sie eine Tote würde, die in einem atmenden, lebenden Körper gefangen ist? Hätte er sich dann trotzdem in sie verliebt?
    Ich schaudere, schlüpfe mit den Füßen in meine neuen alten Schuhe, schiebe den dicken Ring mit dem gelben Gänseblümchen auf den Zeigefinger und drehe mich vor dem Spiegel. Ein Kribbeln steigt mein Rückgrat hoch; endlich sehe ich aus … wie ich selbst. Eine Collage aus Dingen und Orten und Zeitabschnitten.
    Ich streiche meine Ponysträhnen aus der Stirn. Die Narbe liegt wie eine tiefe diamantförmige Scharte über meinem Auge – die Versicherung, dass ich den Tag am Pobach niemals vergessen werde, an dem Oren mir das Leben rettete. Nicht, dass ich das jemals gekonnt hätte. Jeden einzelnen Augenblick habe ich aufbewahrt, abgelegt in einer Million unordentlicher Schubladen in meinem Hirn; sie gehören mir, sie sind meine Mitgift, meine Erbschaft.
    In meinem Augenwinkel glitzert etwas – Sapphires zerbrochener Schmetterling. Ich greife danach, halte ihn fest und schaue mich im Spiegel an. Kein anderes Bild huscht hindurch. Nur ich diesmal. Fast siebzehn Jahre alt. Mit Narben, aber heil.
    ***
    Auf dem Weg hinaus klopfe ich an Moms Schlafzimmertür. Der Fernseher wird leise, das Licht geht an, das Bett quietscht ein wenig. Ihre knochige Gestalt und das bleiche Gesicht erscheinen in der Tür.
    «Was ist los?», fragt sie, verwirrt und desorientiert. Sie versucht, mich anzusehen, aber ihre Augen scheinen an mir abzugleiten, lose, wässrig. Ich frage mich, ob sie ihre eigenen Kleider an mir wiedererkennt, ob sie sich auch nur eine Sekunde lang daran erinnert, wer sie war, als sie sie trug. Ob sie zu mir zurückkommt.
    «Ich gehe zum Abschlussball», sage ich und versuche, sie mit meinen Gedanken dazu zu zwingen, klar zu schauen, mit offenen Augen zu lächeln, herumzukramen, in ihrem Schmuckkästchen nach der richtigen Kette für mich zu suchen. Ich will sie zwingen, mich an sich zu ziehen, mir die Hand auf den Hinterkopf zu legen und mir zu sagen, wie stolz sie auf mich ist, dass ich versuche, wieder zu leben.
    Aber ihr Blick bleibt verhangen, und sie wankt nur ein bisschen und bemüht sich, das Gleichgewicht wiederzufinden. Dann legt sie mir die Hand an die Wange. «Okay», sagt sie und versucht zu lächeln. «Gut.»
    Langsam geht sie zurück zu ihrem Bett, stellt den Fernseher wieder lauter, schaltet die Lampe aus und schlüpft unter die
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