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Schmetterlingsjagd (German Edition)

Schmetterlingsjagd (German Edition)

Titel: Schmetterlingsjagd (German Edition)
Autoren: Kate Ellison
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verhalten.» Sie drückt meine Schulter, zwei Mal. Ich drücke sie noch ein Mal, als sie mich wieder loslässt, und dann die andere Schulter, ebenfalls drei Mal.
    «Tut mir leid», sage ich kleinlaut. Ich weiß, dass sie es alle gesehen haben und dass ich etwas dazu sagen muss.
    «Königin P.», sagt Flynt mit großen, glänzenden Augen und berührt mich mit seinen Bärenohren an der Schulter, «Dir muss gar nichts leid tun.» Mir wird wieder ganz warm im Bauch. Dad schaut zu; Officer Gardner schaut zu. Und mich stört es nicht einmal. Wir vier stehen da, bilden einen lockeren Kreis und treten mit den Schuhspitzen gegen kleine Schmutzbröckchen und Fusseln von den Decken. Flynts braune Stiefel mit den langen Schuhzungen, Dads Lederslipper, Lucys schmutzige Reebok-Turnschuhe, meine abgetragenen Chucks.
    «Wir sollten jetzt heimfahren, Lo», sagt Dad schließlich mit rauer Stimme. «Mom macht sich Sorgen.»
    Ich nicke, auf einmal bin ich sehr, sehr müde, viel zu müde, als dass mir etwas peinlich sein könnte oder um Angst zu haben oder nervös zu sein. Der Adrenalinpegel ist wieder auf Normalmaß abgesunken, und jetzt werde ich schläfrig und wende mich an Flynt. «Wo gehst du jetzt hin? Zurück in den Friseursalon?»
    Officer Gardner legt ihre Hand leicht auf den Arm meines Vaters und zieht ihn beiläufig zur Seite. Sie unterhalten sich, formell, voller Pausen.
    «Malatesta’s, denk ich mal», sagt Flynt. «Wenn sie mich überhaupt zurücknehmen. Wenn sie nicht schon all meine Sachen für ein paar Tuben Ultramarinfarbe verkauft haben.» Er umarmt mich wieder und drückt mich. «Hey, ich seh dich doch ganz bald wieder, oder?»
    Ich sehe das Loch in seinem Hemd und gehe nah genug heran, dass ich die Haut darunter erkennen kann. «Ja», sage ich zu seiner Piniennadel, zu seiner Nelke und zum Schnee, zu seinem schmutzigen Gesicht.
    «Ja», und noch einmal, «ja.» Er legt sein Kinn auf meinem Scheitel ab, ich kann spüren, wie er sich beim Sprechen bewegt, spüre die Bartstoppeln in meinem Haar und bleibe, wo ich bin.
    «Gut. Weil ich finde, dass du mir zumindest ein … Date schuldest. Du weißt schon, weil ich dir das Leben gerettet habe und so.»
    ***
    Auf der Rückfahrt sagt Dad nicht viel, er fragt nur ein paar Mal: «Bist du sicher, dass du nicht ins Krankenhaus musst?» Worauf ich jedes Mal antworte: «Ja, ich bin sicher.» Ich rede sonst auch nicht viel, aber unser Schweigen ist friedlich. Ich glaube, wir denken beide dasselbe: Wenn sie auch nur eine Minute später gekommen wären, säßen wir jetzt nicht zusammen in diesem Auto.
    Er schaltet das Radio an. Ich schaue ihm beim Fahren zu, suche nach meinen Zügen in seinem Gesicht, nach dem, was er mir vererbt hat: dunkles Haar (seins ist inzwischen grau geworden, wie Moms), hohe Stirn (er hat immer behauptet, dass wir den zusätzlichen Platz für unsere extragroßen Hirne brauchten), blasse Haut, ganz gerötet von der Kälte.
    Und plötzlich möchte ich mit jeder Faser meines Körpers die Zeit seit Orens Verschwinden zurückdrehen, seinen Tod ungeschehen machen – nicht einmal für mich, sondern für Dad. Damit er wieder glücklich ist. Damit er nicht mehr sechzehn Stunden am Tag arbeitet, um eine tote Stadt wiederauferstehen zu lassen, um jemanden zurückzubringen, dessen Abwesenheit endgültig und unumkehrbar ist. Damit Mom wieder lebendig wird und die Pillen von ihrem Nachttisch verschwinden. Damit wir wieder Ostereier zusammen färben und an Weihnachten Feuer im Kamin machen.
    Aber ich weiß, dass es nicht so einfach ist. Nichts ist so einfach.
    Wir fahren auf die Einfahrt und gehen dann gemeinsam ins Haus, und drinnen ist es wärmer als sonst, heller irgendwie, frischer, wirklicher. Ich bemerke, dass ich nicht ein Mal tip tip tip, Banane klopfen musste, seit wir eingetreten sind, und dass es mir nichts ausmacht. Ich bin nicht durchgedreht. Ich drehe nicht durch.
    «Ich mach mal Tee, Lo», sagt Dad. «Möchtest du auch welchen?»
    «Ja, bitte», sage ich, nur ein Mal. «Ich bin gleich wieder da.» Leise gehe ich die Treppen hoch und presse mein Ohr gegen Moms Tür. Es ist ganz still – kein Fernseher, kein Schluchzen. Ich gehe weiter. Hoch in mein Dachzimmer, zu meiner Fensterluke und dem Himmelbett und zu allem, was ich gerettet habe. Obwohl ich alles liegen gelassen habe, ist der Boden jetzt frei geräumt: Die kaputten Sachen sind weggeworfen, die heilen zur Seite geschoben und in kleine Häufchen geschichtet. Dad muss hier gewesen sein, als ich weg
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