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Schmeckt's noch?

Schmeckt's noch?

Titel: Schmeckt's noch?
Autoren: Werner Lampert
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Tee.“
    Marcel Proust
    Auf der Suche nach der verlorenen Zeit

    Beim Essen Genießen, bei einem Mahl mit Freunden, werden wir wieder zum Menschen, zum ganzen Menschen. Unsere Sinnes-Integrität stellen wir wieder her. Unsere Genussfähigkeit entwickeln wir weiter, mehr noch: In diesen Momenten, bei denen sich unsere ganze Sinnesfähigkeit entfaltet, erweitern wir oder vielmehr erobern wir unsere sozialen Fähigkeiten. Beim gemeinsamen Genießen verweben wir uns mit unseren Sinnen, unserer Lust förmlich mit den Freuden derer, die mit uns am Mahl teilnehmen.

    In François Rabelais’ Gargantua und Pantagruel wird in fast jedem Kapitel gegessen, getrunken. Es sind Festmahle, die er schildert, bei denen er sich die Lust für weitere Abenteuer holt. Vielleicht dienten seine Abenteuer nur dazu, von einem Festmahl zum anderen zu gelangen. Aber vor allem waren seine Heldentaten Futter für seine weitschweifigen Geschichten, die er in unerschöpflicher Manier beim gemeinsamen Essen auftischte.

    Michail Bachtin zu François Rabelais’ Sinnenwerk:

    „Der Körper geht hier über seine Grenzen hinaus, er schluckt, verschlingt, zerteilt die Welt, nimmt sie in sich auf... “

    „Das im geöffneten, zubeißenden, kauenden Mund vollzogene Treffen von Welt und Mensch... ist eines der ältesten Motive überhaupt... Das Aufeinandertreffen mit der Welt im Akt des Essens war froh und triumphal... die Grenzen zwischen Mensch und der Welt waren im für den Menschen positiven Sinn aufgehoben. Es kann kein trauriges Essen geben, Traurigkeit und Essen sind unvereinbar. Das Festmahl feiert immer einen Sieg, es ist der Triumph des Lebens über den Tod.“

    Im vierten Kapitel beschreibt, nein zelebriert François Rabelais ein Festmahl:

    „Das Magenorificium , welches der Nahrungsversorgung sämtlicher Glieder, der unteren sowohl wie der oberen, gemeinschaftlich von Amts wegen vorsteht, drängt uns, durch Zufuhr der gebührenden Nährstoffe ihnen den geschuldeten Teil dessen wiederzuerstatten, wessen sie durch stete Einwirkung der animalischen Wärme auf die Urfeuchtigkeit verlustig gingen.“

    Auf das hin wurde ein Essen angeordnet, zuvor noch ein Bad genommen, wie es im Altertum Brauch war, wie bei uns das Händewaschen vor Tisch.

    „Die Tischordnung sah vor, dass die Dame nichts aß außer himmlischem Ambrosia und nichts trank außer göttlichem Nektar. Dagegen wurden die Herren und Damen ihres Hofes, insgleichen wir, mit erlesenen, leckeren und köstlichen Gerichten bewirtet, wie nur je Apicius sie im Traum erblickte.

    Als Magenbeschluss wurde ein Gemüsetopf mit verschiedenerlei Fleisch aufgetragen, falls der Hunger das Feld noch nicht geräumt haben sollte, und war der Topf von einem Umfang und einer Größe, dass die goldene Platane, die Pythius Bithynus dem Darius schenkte, ihn kaum bedeckt hätte. Der Eintopf bestand aus verschiedenerlei Gemüsearten, Salaten, Frikassees, Ragouts, Röstfleisch vom Ziegenlamm, Gebratenem, Gesottenem, Karbonaden, großen Stücken Pökelfleisch, abgehangenem Rauchschinken, Teigwaren, einem Berg Maiskörner à la moresque , Torten und Käsen, Rahmquark, Eingemachtem und Früchten aller Art. All das mutete mich trefflich und schmackhaft an, doch rührte ich nichts davon an, da ich schon rundherum satt war.“

    So wird das Leben, der Triumph des Seins über den Tod, im Festmahl gefeiert. Der siegreiche Körper nimmt die besiegte Welt in sich auf und erneuert sich. Für neue Taten, den sprühenden Geist und die Lust zu leben mit allen Sinnen.

    Essen genießen ist eine Schule fürs Leben und befähigt uns, unseren Sinn, alle unsere Sinne zu entwickeln und unsere Erlebnisfähigkeit auszubilden.

    Hand in Hand mit dem Verfall der Landwirtschaft und des Ethos in der Landwirtschaft geht unsere Genussfähigkeit, unser alltägliches Genießen flöten. Wir vertrauen nur noch den aufgeblähten, inszenierten Gelagen. Genuss setzen wir mit diesen Kasperliaden gleich. Erlebnisse holen wir uns vom Sturz von der Brücke oder mit 200 km als Geisterfahrer auf der Autobahn.

    Was ist los mit uns? Haben wir alle unsere Mitte verloren, unser Selbstverständnis? Wir gleichen einem Torso, bei dem nur noch die zum Erhalt dieses Restlebens unbedingt nötigen Organe funktionieren. Nur das Außerordentliche erreicht uns noch. Es ist Zeit, aufzuwachen und uns dem alltäglichen Eros, der alltäglichen Lust und dem alltäglichen Sinnenerlebnis hinzugeben. Lassen wir die aufgeblähte Show den Stumpf- und Dumpfsinnigen
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