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Schmeckt's noch?

Schmeckt's noch?

Titel: Schmeckt's noch?
Autoren: Werner Lampert
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Ernährerin.

    Der Verlust dieses Wissens, der Verlust des Wissens, dass die bäuerliche Arbeit in einer ungebrochenen Tradition von Tausenden von Jahren steht, entwurzelt unsere Landwirte und entfremdet sie ihrer Arbeit.

    Bäuerliche Anwesen, die 200 Jahre ununterbrochen von derselben Familie bewohnt und bewirtschaftet wurden, werden mit dem Ehrentitel „Erbhof“ ausgezeichnet. Der Stolz und die Eindeutigkeit, die aus diesem Dokument sprechen (z.B. steht in der Urkunde „das Streben nach Freiheit“ — auch das wird geehrt), gehen schleichend verloren, und mit diesem Verlust geht auch die Qualität unserer Lebensmittel den Bach hinunter. Denn niemals geht aus dem Unvollkommenen Vollkommenes hervor. Aus einem kaputten Boden kommen keine gesunden Lebensmittel hervor. Wir brauchten gerade jetzt, in dieser trüben Zeit, eine besondere Qualität von Lebensmitteln.

    Dass ein Lebensmittel noch mehr sein kann als ein Mittel zur Stillung unseres Hungers, beschreibt Marcel Proust. Bei ihm werden beim Genuss einer „Madeleine“ alle Sinne mobilisiert, und eine Kette von Erinnerungsassoziationen kommt in Gang. Die Empfindungen, die Erinnerungen sind auf einen Schlag gegenwärtig.

    „Sie ließ daraufhin eines jener dicklichen, ovalen Sandtörtchen holen, die man , Petites Madeleines’ nennt und die aussehen, als habe man als Form dafür die gefächerte Schale einer Jakobs-Muschel benutzt. Gleich darauf führte ich, ohne mir etwas zu denken, doch bedrückt über den trüben Tag und die Aussicht auf ein trauriges Morgen, einen Löffel Tee mit einem aufgeweichten kleinen Stück Madeleine darin an die Lippen. In der Sekunde nun, da dieser mit den Gebäckkrümeln gemischte Schluck Tee meinen Gaumen berührte, zuckte ich zusammen und war wie gebannt durch etwas Ungewöhnliches, das sich in mir vollzog. Ein unerhörtes Glücksgefühl, das ganz für sich allein bestand und dessen Grund mir unbekannt blieb, hatte mich durchströmt. Es hatte mir mit einem Schlag, wie die Liebe, die Wechselfälle des Lebens gleichgültig werden lassen, seine Katastrophen ungefährlich, seine Kürze imaginär, und es erfüllte mich mit einer köstlichen Essenz; oder vielmehr: diese Essenz war nicht in mir, ich war sie selbst. Ich hatte aufgehört, mich mittelmäßig, zufallsbedingt, sterblich zu fühlen. Woher strömte diese mächtige Freude mir zu? Ich fühlte, dass sie mit dem Geschmack des Tees und des Kuchens in Verbindung stand, dass sie aber weit darüber hinausging und von ganz anderer Wesensart sein musste. Woher kam sie mir? Was bedeutete sie? Wo konnte ich sie fassen ?...

    ...Und mit einem Mal war die Erinnerung da. Der Geschmack war der jenes kleinen Stücks einer Madeleine, das mir am Sonntagmorgen in Combray (weil ich an diesem Tag vor dem Hochamt nicht aus dem Hause ging), sobald ich ihr in ihrem Zimmer guten Morgen sagte, meine Tante Léonie anbot, nachdem sie es in ihren schwarzen oder Lindenblütentee getaucht hatte...

    ...Und so ist denn, sobald ich den Geschmack jenes Madeleine-Stücks wieder erkannt hatte, das meine Tante mir, in Lindenblütentee getaucht, zu geben pflegte (obgleich ich noch immer nicht wusste und auch erst späterhin würde ergründen können, weshalb diese Erinnerung mich so glücklich machte), das graue Haus mit seiner Straßenfront, an der ihr Zimmer sich befand, wie ein Stück Theaterdekoration zu dem kleinen Pavillon an der Gartenseite hinzugetreten, der für meine Eltern nach hinten heraus angebaut worden war (also zu jenem begrenzten Ausschnitt, den ich bislang allein vor mir gesehen hatte), und mit dem Haus die Stadt, vom Morgen bis zum Abend und bei jeder Witterung, der Platz, auf den man mich vor dem Mittagessen schickte, die Straßen, in denen ich Einkäufe machte, die Wege, die wir gingen, wenn schönes Wetter war. Und wie in jenem Spiel, bei dem die Japaner in eine mit Wasser gefüllte Porzellanschale kleine Papierstückchen werfen, die sich zunächst nicht voneinander unterscheiden, dann aber, sobald sie sich voll gesogen haben, auseinander gehen, Umriss gewinnen, Farbe annehmen und deutliche Einzelheiten aufweisen, zu Blumen, Häusern, echten, erkennbaren Personen werden, ebenso stiegen jetzt alle Blumen unseres Gartens und die aus dem Park von Swann und die Seerosen auf der Vivonne und all die Leute aus dem Dorf und ihre kleinen Häuser und die Kirche und ganz Combray und seine Umgebung, all das, was nun Form und Festigkeit annahm, Stadt und Gärten, stieg auf aus meiner Tasse
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