Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Schlangenkopf

Schlangenkopf

Titel: Schlangenkopf
Autoren: Ulrich Ritzel
Vom Netzwerk:
oder ziehen sie aus dem Automaten, und gehen dann doch nicht sofort durch die Kontrolle und zu ihrem Gate, sondern bleiben erst einmal in der Eingangshalle und trinken einen Kaffee oder kaufen sich was zu lesen. Das sind aber nicht so arg viele. Und die wenigen, die das tun, stecken die Bordkarte nicht in die Reisetasche, natürlich nicht, sondern sie stecken die Karte in die Brusttasche ihrer Jacke. Sie werden sie ja gleich oder in einer halben Stunde wieder vorzeigen müssen.
    Trotzdem hätte er es um ein Haar versucht. In einem Trupp von Kerlen, die auf ihren Ballermann-Flieger nach Mallorca warteten, hatte einer ein noch röteres Gesicht als die anderen; André hatte sich ausgerechnet, dass der Kerl auf die Toilette gehen und vielleicht kotzen muss. Er hätte ihm dann ein nasses Wischpapier gereicht und wäre überhaupt behilflich gewesen, ihn zu erleichtern. Tatsächlich hatte der Kerl kurz darauf das WC angesteuert, ziemlich unsicher übrigens, was sogar den anderen Typen auffiel, die einen von ihnen zur Begleitung mitschickten. Egal! Die Typen hätten es sofort gemerkt, wenn auf dem Platz von ihrem Kumpel, dem man die Brieftasche geklaut hat, ein Fremder sitzt.
    Am Westkreuz steigt er um und nimmt eine Bahn zum Hauptbahnhof. Mit ihm steigen zwei Frauen ein und nehmen auf der Fensterbank gegenüber Platz, aber weiter vorne, direkt beim Ausstieg. Es sind eine ältere und eine jüngere Frau, sie haben eine große Reisetasche und ein kleines Köfferchen bei sich, beide sind aus schwarzem Leder, die Reisetasche haben sie vor sich auf den Boden gestellt, aber das Köfferchen steht auf der Sitzbank neben der Jüngeren. Die ältere Frau trägt ein Kostüm, es sieht so aus, als sei es aus einem dieser englischen Stoffe; er weiß das deshalb, weil ihn die Elke immer wieder mal auf einen Schaufensterbummel mitgeschleppt und damit genervt hat, ob ihr so etwas wohl stehen würde. Die Jüngere trägt einen kurzen Rock und diese komischen hohen Stiefelchen und hat auch lange blonde Haare und eine blaue Baskenmütze. Es sind also Mutter und Tochter, sagt er sich, man sieht es auch, weil die Ältere so einen besorgten und die Jüngere so einen schnippischen Ausdruck im Gesicht hat. Auch blickt die Mutter immer wieder auf eine kleine goldene Armbanduhr, man ist also in Eile. Die Tochter ist ganz sicher viel älter als er, vielleicht ist sie sogar schon eine Studentin. Weil es zwei Frauen sind, ist es für beide zu wenig Gepäck. Also bringt die Mutter die Tochter zum Hauptbahnhof, und es ist nur die Frage, wohin die Tochter fährt. Es wird Frankreich sein, denkt er, und nicht einfach nur Frankreich, sondern Paris, warum sonst die Baskenmütze! Bei Frankreich fällt ihm jetzt wieder der Bilch ein, der wollte ja dorthin, und jetzt sitzt er in seiner Zelle und guckt zu den Gitterstäben hinaus, fast empfindet André ein wenig Mitleid.
    Die S-Bahn fährt in die Station Bellevue ein, André steht auf und geht an den beiden Frauen vorbei zu den Türen. Als die Bahn hält und die Türen sich öffnen, wirft er einen Blick hinaus, als warte er auf jemanden, der dort zusteigen würde.
    »Du nervst mich«, sagt hinter ihm die jüngere zu der älteren Frau, »wir sind viel zu früh am Hauptbahnhof.«
    Es kommt das Abfahrtssignal, André beugt sich zurück und packt mit der linken Hand das Köfferchen und springt hinaus, gerade als die Türen hinter ihm zuklappen und die S-Bahn anfährt. Rechts ist die Treppe zu einer Unterführung, er geht sie ruhig hinunter und durch die Unterführung zum Bahnsteig gegenüber, dort fährt gerade die S 7 nach Potsdam Hauptbahnhof ein.
    V ergeht Zeit? Es ist Unsinn, das so zu nennen, denkt Barbara. Wie lange schon sitzt sie auf diesem Holzstuhl in einem von Neonröhren beleuchteten Korridor der Charité? Sie weiß es nicht. Längst kennt sie den Text auf dem Plakat auswendig, auf dem den Patienten unter der Schlagzeile: » Wir streiken auch für Ihre Gesundheit « erklärt wird, warum jetzt nur noch ein Notfalldienst aufrechterhalten werde. Die Zeit gibt es gar nicht. Sie ist eine individuelle Erfahrung und folglich eine psychologische Kategorie. Die Zeit eines Kindes verläuft unvorstellbar viel langsamer als die des alternden Menschen. Vielleicht kann Zeit sich auch konzentrieren, womöglich sogar implodieren, zu einem Schwarzen Loch zusammenfallen. Irgendwo in ihrem Kopf meldet sich eine Stimme, es ist die Stimme Berndorfs, sie sitzen in Blengow in der Wohnküche, und er liest ihr einen Aphorismus des
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher