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Schlaflos in Seoul

Titel: Schlaflos in Seoul
Autoren: Vera Hohleiter
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die Namen einiger Freunde auf und sah mir die Liste an. Dabei fiel mir auf, dass ich einige Namen wieder durchstreichen musste.
     Sheila hatte Seoul längst verlassen und Whitney bereitete gerade ihre Rückkehr in die USA vor. Freundschaften in Seoul haben
     meist ein Verfallsdatum. Bei befreundeten Koreanern endet die Freundschaft oft mit deren Hochzeitstag, denn verheiratete Koreaner
     führen ein eingeschränktes Sozialleben. Freundschaften mit anderen Ausländern dauern bis zu dem Tag, an dem das Visum des
     einen oder des anderen abläuft.
    Mit wirklich guten Freunden hielt ich Kontakt über alle Kanäle der modernen Kommunikation   – E-Mail , Messenger, Facebook. Meine deutschen Freunde standen mir dadurch – obwohl ich sie maximal zwei Mal im Jahr sah – noch genauso
     nahe wie zu der Zeit, als wir uns die Nächte in Berliner Bars um die Ohren geschlagen hatten. Ich beschloss, den ganzen Freundschaftsaspekt
     von der Liste zu streichen. Freundschaften konnte man über mehrere Kontinente hinweg pflegen. Es war letztendlich nicht ausschlaggebend,
     ob man in dem einen Land lebte oder in dem anderen.
    Ich ging zurück zur Ausgangsfrage: »Warum denn Korea?« Es musste doch etwas Koreaspezifisches geben, das das Land an sich
     attraktiv machte und nicht einzelne Menschen, die in dem Land lebten. Ich fing an, Kleinigkeiten aufzuschreiben, die mir in
     Korea gefielen. »Wasser« – in Korea bekommt man in jedem Restaurant umsonst so viel Wasser wie man trinken kann. Oft vergaß
     ich, dass das in Deutschland nicht üblich ist, und ärgerte mich bei jedem Deutschlandbesuch, wenn ich im Restaurant stilles
     Wasser bezahlen musste.
    Dann notierte ich »besserer Service«. Wenn man aus der Servicewüste |180| Deutschland kommt, fällt einem die Servicebereitschaft in Korea sofort auf. Die Kellner sind nicht nur deutlich freundlicher
     als in Deutschland, wenn man im Restaurant auf einen Tisch warten muss, wird einem als Entschuldigung für die Wartezeit ein
     Glas Wein oder eine Tasse Kaffee angeboten. An Tankstellen bekommt jeder Kunde entweder ein Päckchen Taschentücher oder eine
     Flasche Wasser geschenkt. An deutschen Tankstellen dagegen scheint manchmal schon ein Lächeln zu viel verlangt.
    In Korea kann man nahezu alles, was kaputtgeht, wieder zum Händler zurückbringen und dort kostenlos reparieren lassen – auch
     wenn man die Quittung weggeworfen hat und die Garantie längst abgelaufen ist. In Deutschland tut man sich manchmal schwer,
     überhaupt jemanden zu finden, der einem etwas reparieren kann. Einmal wollte ich in Deutschland meine Lieblingshose kunststopfen
     lassen, aber die Schneiderin weigerte sich, den Auftrag anzunehmen, weil er ihr zu unbedeutend erschien.
    Als Nächstes fielen mir »kleine Geschenke« ein. Koreanische Kosmetikläden verteilen immer viele Pröbchen, manchmal werden
     einem auch Wattepads oder Schlankheitstees angeboten. Zu jeder Modezeitschrift, die man in Korea kauft, bekommt man ein kleines
     Geschenk   – Kosmetiktaschen, Portemonnaies, Kissen   … Manchmal ist der Wert des Geschenkes höher als der Preis der Zeitschrift. Selbst wenn einem die kleinen Beigaben der Modezeitschriften
     nicht gefallen, kann man sie aufheben und später weiterverschenken. Oft kaufte ich die Zeitschriften nur, weil ich das Geschenk
     haben wollte.
    Aber es konnte doch nicht sein, dass ich immer noch in Korea war, nur weil ich dort Werbegeschenke bekam. Ich dachte weiter
     nach und schrieb das Wort »Chancen« auf. Manchmal überlegte ich mir, was wohl aus mir geworden wäre, wenn ich nicht nach Korea
     gegangen wäre. Vermutlich hätte ich immer noch einen befristeten Vertrag bei einer Kulturinstitution, |181| vielleicht auch ein schlecht bezahltes Volontariat. Sehr wahrscheinlich würde ich an der Grenze zum Prekariat leben – wie
     so viele Lebenskünstler, die ich aus Berlin kannte. So schwierig die Arbeitssuche in Korea war, boten sich doch Chancen, die
     sich in Deutschland nie aufgetan hätten. Allerdings benötigte ich dabei viel Geduld.
    In Deutschland hätte ich nie die Möglichkeit gehabt, in einer populären Fernsehshow aufzutreten, weil sich einfach niemand
     für meine Ansichten über gute und schlechte Manieren, Familienstrukturen oder kulturelle Unterschiede interessiert hätte.
     In Korea genügten mein europäisches Gesicht und mein Kindergartenkoreanisch als Qualifikation, um ins Fernsehen zu kommen.
     Auch beim Radio hätte ich in Deutschland keine Arbeit gefunden
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