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Schlaflos in Seoul

Titel: Schlaflos in Seoul
Autoren: Vera Hohleiter
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manchmal sogar als bedrohlich wahrgenommen.
    In der vierten Phase geschieht meist eine – gewollte oder ungewollte – Anpassung. Diese Phase tritt nach mehreren Monaten,
     in manchen Fällen erst nach mehreren Jahren, ein, wenn der Ausländer genug über das Gastland weiß, um sowohl positive wie
     negative Aspekte realistisch einschätzen zu können. Zu der Zeit haben sich meist Kommunikationsprobleme durch verbesserte
     Sprachkenntnisse relativiert. Das neu erworbene Wissen über kulturelle Eigenheiten des Gastlandes hilft, anfängliche |187| Fauxpas zu vermeiden und über die Erfahrungen der ersten Monate in der Retrospektive zu lachen.
    Die Bezeichnung Kulturschock ist, meiner Meinung nach, irreführend, weil sie auf eine punktuelle negative Erfahrung hindeutet
     und nicht auf einen lang anhaltenden Prozess. Der eigentliche Kulturschock findet in der zweiten Phase statt, wenn sich der
     Ausländer im Gastland plötzlich seiner Andersartigkeit und seiner Fremdheit bewusst wird. In Korea dachte ich öfter an Grace
     Kellys Geschichte. Irgendwann taufte ich den Prozess der vier Phasen des Kulturschocks in das Grace-Kelly-Syndrom um, weil
     ich den Begriff treffender und auch tröstlicher fand. Schließlich weiß jeder, dass Grace Kelly nach anfänglichen Eingewöhnungsschwierigkeiten
     ihre Rolle als monegassische Fürstin glanzvoll ausfüllte.
    Wer länger im Ausland lebt, wird zwangsläufig irgendwann mit dem Grace-Kelly-Syndrom konfrontiert werden. Wer weit gereist,
     gut ausgebildet und bestens vorbereitet seinen Auslandsaufenthalt antritt, glaubt meistens, gegen das Grace-Kelly-Syndrom
     immun zu sein. Viele denken, Kulturschock sei etwas, das nur die Naiven   – Menschen eben, die sich schnell schockieren lassen – treffen könne. Tatsächlich bleibt jedoch kaum jemand davon verschont.
     In Korea lernte ich Ausländer kennen, die von ihrer Firma entsandt worden waren, und deren mitgereiste Partner, Austauschstudenten,
     Sprachlehrer, die es nach Korea verschlagen hatte, Heiratsmigranten, heimgekehrte Diaspora-Koreaner und koreanische Adoptivkinder,
     die im westlichen Ausland aufgewachsen und nun auf der Suche nach ihren Wurzeln waren – so unterschiedlich ihre Situation
     und ihre Lebensumstände sein mochten, alle wiesen mehr oder weniger ausgeprägt Symptome des Grace-Kelly-Syndroms auf.
    Die Symptome reichen von permanenter Reizbarkeit zu Übersensibilität und führen manchmal bis zu Angstzuständen, Weinkrämpfen,
     Waschzwang und depressiven Verstimmungen, die sich sogar zu klinisch relevanten Depressionen |188| auswachsen können. Manche Ausländer kapseln sich völlig ab und führen ein einsames Dasein in ihrer selbst gewählten Isolation.
     Andere werden übertrieben kommunikativ und extrovertiert, stürzen sich auf jeden Landsmann, den sie finden können, und drängen
     ihm ihre Lebensgeschichte auf.
    Es gibt viele unterschiedliche Ausprägungen des Grace-Kelly-Syndroms, eines haben jedoch alle Betroffenen gemeinsam: Sie schämen
     sich für den Zustand, in dem sie sich befinden. Die Unfähigkeit, mit dem Alltag in einem fremden Land fertig zu werden, sehen
     viele als Schande an. Eine weitverbreitete Ansicht lautet: In einer globalisierten Welt müssen alle mobil, flexibel und zielgerichtet
     sein. Wer es nicht schafft, sich anzupassen, hat verloren. Wer sich negativ über eine fremde Kultur äußert, mit der er nicht
     zurechtkommt, gilt als ignorant, respektlos und engstirnig.
    Ich fand es eigentlich immer eher verwunderlich, wenn jemand behauptete, keine Anpassungsschwierigkeiten zu haben und sich
     immer nur politisch korrekt und freundlich über Korea äußerte. Gerade wenn sich die kulturellen Gegebenheiten im Gastland
     und im Heimatland fundamental voneinander unterscheiden, stellt man irgendwann fest, dass vieles, was im Heimatland als richtig
     und gut galt, auf einmal keine Bedeutung mehr hat. Das kann bei ganz banalen Dingen wie Tischmanieren anfangen.
    Die meisten Koreaner, die ich kenne, essen äußerst geräuschvoll. Schmatzen, Schlürfen und Kauen mit offenem Mund werden als
     durchaus akzeptabel angesehen. Zu meiner größten Bestürzung erlebte ich es mehrmals, dass ältere Koreaner ungeniert vor mir
     rülpsten und furzten. Ich versuchte, diese Vorfälle taktvoll zu ignorieren, hielt diese Leute von da an aber für leicht unkultiviert.
    Umgekehrt ärgern sich Koreaner oft über Ausländer, die die verschiedenen Höflichkeitsstufen durcheinanderbringen und sich
     deshalb oft
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