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Schlafende Geister

Schlafende Geister

Titel: Schlafende Geister
Autoren: Kevin Brooks
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anrufen? Mein Seitenfenster wurde eingeschlagen. Ich brauche jemanden, der vorbeikommt und eine neue Scheibe einsetzt. Der Wagen steht auf dem Parkplatz.«
    Sie hob die Augenbrauen. »Sonst noch was?«
    Ich lächelte sie wieder an und warf einen Blick auf die Fellpantoffeln an ihren Füßen. Sie waren lila. Und heute trug sie einen passenden Minirock aus lila Knautschsamt dazu, der genauso alt und abgetragen wie ihre Pantoffeln war.
    »Sehr schick«, sagte ich zu ihr.
    Sie lächelte. » Zu gütig von Ihnen.«
    »Ich weiß.«
     
    Auf der Toilette wusch ich mich, so gut es ging, dann rubbelte ich die Haare mit einem Handtuch trocken, streifte sie mit den Fingern nach hinten und warf einen letzten Blick in den Spiegel. Ich sah zwar nicht wirklich vorzeigbar aus, wirkte aber doch nicht mehr ganz wie ein verprügelter Alki in einem billigen schwarzen Anzug.
    Das Gesicht im Spiegel schaute einen Moment lang zurück und fragte, wieso ich mich so lange mit meinem Aussehen aufhielt. Wozu? , wollte es wissen. Was kümmert dich, wie du aussiehst oder was jemand von dir denkt? Es interessiert dich doch gar nicht richtig, ob dir die Frau in deinem Büro einen Auftrag erteilt oder nicht. Wieso mühst du dich dann so ab?
    Ich wusste keine Antwort.
    Ich schnaubte, strich mir noch einmal die Haare nach hinten und ging zurück ins Büro.
     
    Sie saß in dem Sessel gegenüber von meinem Schreibtisch und starrte auf ein Handy in ihrem Schoß. Sie hatte ein schmales, kantiges Gesicht. Kein Make-up und kurzes silbergraues Haar. Ihre Kleidung wirkte überkorrekt und billig – ein brauner Tweedmantel über einer farblosen Bluse und einem langen, unförmigen Rock – und sie trug eine Brille, wie man sie von Lehrerinnen und Bibliothekarinnen kennt: unnötig groß mit farbigem Kunststoffgestell. Ich schätzte die Frau auf ungefähr fünfundvierzig.
    »Tut mir leid, dass ich Sie habe warten lassen«, sagte ich, als ich hereinkam und hinter mir die Tür schloss. »Ich bin aufgehalten worden.«
    Sie schaute zu mir hoch und ließ ein kurzes, nervöses Lächeln aufblitzen. Ich sah, wie sie den Zustand meines Gesichts wahrnahm, aber sie sagte nichts. Nur die Lippen verzogen sich und ihr Lächeln wurde für einen Moment schmal, dann beugte sie sich wieder nach unten und steckte das Handy in ihre Tasche.
    Ich ging hinüber zu meinem Schreibtisch. »Entschuldigung, meine Sekretärin hat offenbar gar nicht nach Ihrem Namen gefragt.«
    »Mrs Gerrish«, antwortete sie. »Ich bin Helen Gerrish.«
    »John Craine«, sagte ich und reichte ihr die Hand. »Sehr erfreut, Mrs Gerrish.«
    Sie schenkte mir wieder dieses schmale kleine Lächeln und schüttelte meine Hand. Na ja, ein wirkliches Händeschütteln war es nicht – eher streiften ihre Fingerspitzen kurz meine Hand. Es fühlte sich an wie die Berührung eines zerbrechlichen, ängstlich zitternden Kindes.
    Während ich mich hinsetzte, versuchte ich mich zu erinnern, wo ich ihren Namen schon mal gehört hatte. Gerrish … Gerrish … das sagte mir etwas, aber im Moment fiel es mir nicht ein.
    »Gut, Mrs Gerrish«, sagte ich. »Was kann ich für Sie tun?«
    Sie zögerte einen Moment, schaute nach unten auf die Hände in ihrem Schoß, dann sagte sie, ohne aufzusehen: »Es geht um meine Tochter … Anna. Sie wird vermisst.«
    »Anna?«
    Sie nickte.
    Und jetzt erinnerte ich mich an den Namen. Vor ungefähr einem Monat hatte er auf der Titelseite des Regionalblatts gestanden und wohl auch in ein oder zwei überregionalen Zeitungen. Anna Gerrish, eine Frau Anfang zwanzig, war eines Nachts verschwunden, nachdem sie die Arbeit verlassen hatte. Sie hatte einfach den Mantel angezogen, war zur Tür hinaus und seitdem hatte niemand mehr etwas von ihr gesehen oder gehört.
    »Anna Gerrish …«, sagte ich leise vor mich hin.
    »Ich nehme an, Sie haben davon gelesen«, antwortete Mrs Gerrish.
    »Ja … ja, das hab ich.« Ich sah sie an. »Wie lange ist das jetzt her?«
    »Vier Wochen und zwei Tage.«
    »Ist die Polizei irgendwie weitergekommen ?«
    Sie stieß ein kurzes, bitteres Lachen aus. »Weitergekommen? Nein, die Polizei ist nicht weitergekommen . Wenn Sie mich fragen, hat die überhaupt nichts getan.«
    »Ich bin sicher, die Leute tun, was sie können.«
    »Nein, Mr Craine«, sagte sie bestimmt. »Ich glaube nicht, dass sie das tun.«
    »Wirklich? Wie kommen Sie darauf?«
    Sie zuckte die Schultern. »Sie haben Anna nicht gefunden. Sie haben überhaupt nichts gefunden. Und sie scheinen es auch gar nicht zu
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