Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Schischkin, Michail

Schischkin, Michail

Titel: Schischkin, Michail
Autoren: Venushaar
Vom Netzwerk:
alle,
hat sich entspannt und liegt im tiefen Schlaf. Nur in einem Fensterchen ist
noch Licht zu sehen. Da probiert der Rjasaner Oberleutnant, ein großer
Liebhaber von Stiefeln, sein neues Paar an, hat sich schon einige Male dem
Bette mit der Absicht genähert, die Stiefel auszuziehen und sich schlafen zu
legen, kann sich doch nicht entschließen: hebt den Fuß in die Höhe, bewundert
den kühn und zierlich geformten Absatz. Ein Magen, der Bern verdaut. Ein Brot,
das leuchtet. Zieht man an dem am Seifenstück klebenden Haar, zerfließen die
Kontinente. Die Därme der Erde schlafen. Die weißen Bleistifte schlafen.
Mädchen schlafen, als schwömmen sie, den rechten Arm voraus unterm Kissen, den
linken zurückgeworfen, Handfläche nach oben. Nachts springen die Fontänen
lauter. Am Barcaccia-Brunnen kein Mensch. Auch nicht am Trevi-Brunnen, dem
Paradepferd, Flaggschiff, Admiral, der die Brunnenflotte anführt auf
schlafender steinerner See. Keinem staubt Wasser auf die Haut, keiner trinkt
das köstliche Nass aus der Aqua Virgo, keiner wirft sich eine Münze über die
Schulter wie: Hier hast du deinen Obolus, Fährmann der Ziegen, Wölfe und Kohlköpfe,
tu deine Pflicht! Die Fledermäuse haben auf ihre Stunde gewartet, nun kommen
sie aus der Kuppel des Pantheons geflogen, trudeln hektisch umher. Unter der Brücke,
die zum Castel Sant Ängelo führt, treibt auf dem Tiber ein an die Wand gekratztes
Boot, unbesetzt. Das Forum liegt still und öd, nur die Katzen hocken da und
starren unverwandt auf die angenagelten Hände. Bald muss es hell werden. Der
Himmelsarchitekt greift zur Schere, gleich wird er herausschneiden, was zu viel
ist: die Säulen vom Petersdom, die Brücke mit den Engeln. Auch er ein Wirrkopf:
will Engel ausschneiden, doch heraus kommen Sewastopoler Offiziere, die wollen
endlich auftauchen, reißen an den Leinen, die Fetzen der Hemden flattern wie
Flügel. Vielleicht war er es ja, Bernini, der die Welt so durcheinandergebracht
hat! Beauftragt, eine alte Frau aus dem Marmor zu hauen, die selbst kein Kind
empfing und es anderen nicht gönnte, und die im Angesicht des Todes mummelte:
Das lang ersehnte Stündlein hat geschlagen, mein Herr! Wird Zeit, dass wir
einander kennenlernen, mein Bräutigam, mein Tod!... Aber nein, stattdessen
schuf der Wirrkopf eine junge Braut. Und ihr Bräutigam ist das Venushaar. Der Tag
bricht an. Auf der Spanischen Treppe türmt sich der Müll von gestern. Vom Monte
Pincio her ein Schrei: Eloi, Eloi! Lama sabachtani? Ein schwarzer Engel steht
reglos, die Ledertaschenflügel ausgebreitet, an der Ecke der Piazza del Popolo.
Den Corso entlanghetzt, die ersten morgendlichen Spaziergänger rempelnd, die
Galpetra, wie wir sie von der Klotür kennen: bärtig und nackt, die kiloschwer
klatschenden Brüste schwenkend, mit einem Pünktchen im Bauch. Hetzt jenem
hinterher, der weit voraus schon trabt, König Marius' Königreich entgegen. So
warten Sie doch!, ruft die Galpetra, lassen Sie mich mitrennen für alle,
gemeinsam rennt es sich besser! Derweil steht am Ende der Straße ein einsamer
Stadtführer und reckt den zugeklappten Regenschirm mit morgenrotem Fähnchen.
Bitte folgen, meine Herrschaften!, soll das heißen. Nur nicht zurückbleiben,
ich zeige Ihnen das Wichtigste in dieser vergänglichen Stadt! Es ist der
ägyptische Obelisk mit anhängendem rosa Wölkchen, er ruft: Wo seid ihr? Mir
nach! Ein Kräutlein will ich euch zeigen, ein grünes, grünes Gras!
     
    Zürich - Rom
2002-2004
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher