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Schillerhoehe

Schillerhoehe

Titel: Schillerhoehe
Autoren: Oliver Schaewen
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Thermoskanne in die Tas­ sen. Na, wenigstens konnte man ihm den Magister für Spanisch, Deutsch und Geschichte nicht mehr nehmen. Den Abschluss hatte der 29­Jährige seit zwei Wochen in der Tasche – nach 16 launigen Semestern in Tübin­ gen, der Mindestzahl an Seminaren und einem Maxi­ mum an Partys. Eilig hatte er es eigentlich nur gehabt, wenn es darum ging, lästige Hausarbeiten schnell abzu­ geben. Vielleicht war er wegen seiner Ungeduld auf die Idee gekommen, es bei der Zeitung zu probieren. Die plötzliche Selbsterkenntnis ließ ihn schmunzeln. Er brachte Lisa den Kaffee und setzte sich mit seiner Tasse wieder an den Schreibtisch.

    Eine dicke Rauchwolke aus dem Nebenzimmer nebelte inzwischen seinen Platz ein. Santos hustete und fluchte leise. Der Redaktionsleiter Gustav Zorn gönnte sich an jedem Vormittag eine Zigarre, die er genüsslich rauchte, während er die Zeitungen aus dem Großraum Stutt­ gart las. Zorn nutzte seit 20 Jahren seinen komplet­ ten Jahresurlaub, um sich in der Karibik einen Vorrat an Tabakwaren zu besorgen. Natürlich flog er nicht nur deshalb in die DDR, wie er die Deutsche Domini­ kanische Republik wegen der vielen Landsleute dort scherzhaft nannte. Er entfloh damit vor allem dem nebligen November am Neckar. »Der deutsche Spät­ herbst ist nichts für mich«, pflegte er bereits im Som­ mer den Kollegen zu sagen, wenn er den Flug buchte. Die Redakteure fieberten der Reise ihres Chefs min­ destens genauso entgegen wie ihr strenger Vorgesetz­ ter. Wenn Zorn weg war, leerten sie einen Kasten Bier, denn seine Abwesenheit musste gefeiert werden. Das kam nicht von ungefähr: Der Oberleutnant der Reserve duldete keinen Widerspruch und ließ nicht nur mit sei­nen Zigarren gerne Dampf ab. Luca Santos hielt sich zurück – was nicht einfach war: Das andalusische Blut seiner mütterlichen Linie wallte mächtig auf, vor allem wenn Zorn ihn mal wieder bei Dauerregen zu einer Straßenumfrage losschickte.
      Dichter Rauch umhüllte jetzt den Kopf von Santos. Er spürte, dass Zorn hinter ihm stand und drehte sich um. Der Redaktionsleiter grinste ihn überheblich an.
      »Na, was machen die lieben kleinen Kläffer?«
      »Denen geht es aber so was von gut. Die Hunde­ steuer liegt bald auf Ihrem Tisch«, antwortete San­ tos. Er bemühte sich, motiviert zu wirken, obwohl er sich gedanklich schon im freien Wochenende bewegte. Er wollte sich am Abend mit seiner Freundin Julia in Tübingen treffen. Sie sahen sich in letzter Zeit kaum, er hatte deshalb einen Tisch in einem bezahlbaren Res­ taurant der oberen Mittelklasse bestellt. Diese Art der Romantik würde zwar nicht unbedingt seinem Geld­ beutel guttun, dafür aber hoffentlich ihrer Beziehung.
      »Herr Santos, ich bräuchte Sie für eine wichtige Geschichte«, meinte Zorn mit argloser Miene. Er blies den Zigarrenrauch diesmal rücksichtsvoll in Richtung Decke. »Rellink, unser Feuilletonist, hat sich krank­ gemeldet. Können Sie heute Abend eine Lesung im Schlosskeller übernehmen? Ich plane mit 80 Zeilen und einem Bild mit Erika Scharf. Sie wissen schon, diese Ossi­Schreiberin, die jetzt gerade durch die Republik tourt, nachdem einige dieser abgedrehten Literatur­ experten sie in den Himmel gehoben haben.«
      Luca Santos schluckte. Inständig hatte er gehofft, dass er nicht doch noch einen Abendtermin verpasst bekam. Diese Lesung war freilich nicht irgendein Ter­min, mit Erika Scharf kam eine ambitionierte Schrift­ stellerin. Sie galt als eine Frau mit einer wunderbaren Ausstrahlung, die es verdient hätte, zu den ganz Gro­ ßen der gesamtdeutschen Literaturgeschichte gezählt zu werden. Aber tatsächlich hatte sie erst jetzt, im reifen Alter von etwa 70 Jahren, den Durchbruch geschafft. Viel zu lange hatte sie ihre Manuskripte in der Schublade gelassen. Erst jetzt, 20 Jahre nach dem Mauerfall, wagte sie sich an das Licht der Öffentlichkeit – und ihr erster Roman, entstanden aus einer Sammlung lange geheg­ ter Tagebucheinträge aus ihrem Leben in der ehemali­ gen DDR, zeigte ihre Größe. Eine solche Gelegenheit, sich beim Marbacher Kurier zu profilieren, konnte der Praktikant auf keinen Fall ablehnen.
      »Na klar, die 80 Zeilen sind fix«, hörte er sich ant­ worten.
      »Schön, mein Junge. Sie wissen ja, wie man solche Sachen anpackt: Kein Germanistengesäusel – wir wol­ len den Menschen kennenlernen.«
      Zorn bog zufrieden um die Ecke. Luca erschrak. Er stellte sich vor, wie Julia vor Wut ins
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