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Schillerhoehe

Schillerhoehe

Titel: Schillerhoehe
Autoren: Oliver Schaewen
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grundsätzlich keine Inter­ views gab. Der Autor der Umschau führte das auf ihre unglückliche Vergangenheit im SED­Staat zurück. Aus Angst vor Bespitzelungen hatte sie ihre Notizen sogar im Garten vergraben. Späte Funde auf dem Bauern­ grundstück ihrer Eltern in der Nähe von Potsdam tru­ gen zum Scharf­Hype bei, der sich in den vergange­ nen Jahren in der deutschen Literaturszene entwickelt hatte. Und noch etwas beförderte den Mythos des spät entdeckten Genies: Auch heute noch ging Erika Scharf Interviews beharrlich aus dem Weg. Ein Schutzme­ chanismus, der aus alter Zeit nachwirkte? Luca war sich nicht sicher, ob er die Wortverweigererin verste­ hen wollte. Sie wirkte bei ihren Lesungen keineswegs verschüchtert. Und die Fragen würden ihr ja schließ­ lich keine Stasi­Offiziere, sondern durchaus verständ­ nisvolle, freiheitsliebende Journalisten stellen.
      »Ich würde Sie nachher noch gerne sprechen«, bat Luca. Gespannt wartete er auf ihre Antwort.
      »Aber natürlich«, säuselte die Scharf. »Ich muss aller­ dings erst noch Bücher signieren. Sie können sich dann noch zu mir setzen – vorausgesetzt, Sie stellen mir keine Fragen.«
      Luca schluckte. Er war sich nicht ganz sicher, sie rich­ tig verstanden zu haben, seine Gedanken rotierten: Ein Interview ohne Fragen, wie sollte das denn wohl funk­ tionieren? Immerhin war er nicht auf völlige Ablehnung gestoßen. Er nahm sich vor, sie später mit Alkoholi­ schem zu versorgen, dann würde sie schon auftauen.
      »Auf ein Glas Wein gegen später«, rief er.
      Sie lächelte ihm zu und nickte.
      »Meine Frau wird sicherlich kaum Zeit für lange Gespräche haben«, zischte plötzlich Dietmar Scharf, als die Dichterin bereits auf dem Weg zum Podium war. Scharf überreichte Luca eine Visitenkarte. »Wenn Sie noch Fragen haben, können Sie mich morgen auf dem Handy anrufen.«
      »Na, besten Dank für das Angebot«, antwortete San­ tos mit gespielter Freundlichkeit. Er dachte überhaupt nicht daran, sich das Glas Wein mit der Schriftstellerin entgehen zu lassen. Zu neugierig war er auf das Inter­ view, bei dem keine Fragen gestellt werden durften.

    Die Lesung hielt, was sich die Veranstalter versprochen hatten. Erika Scharf beeindruckte die Zuhörer in dem Kellerraum, der bis auf den letzten Platz gefüllt war. Ihre Lektüre, einige Gedichte aus den späten 60er­Jahren, wirkte auf Luca keineswegs antiquiert. Mit ihren Worten überzeichnete sie bewusst eine untergehende Mondland­ schaft. Die ›kalten Krater der Zerstörung‹ lenkten ›die Menschheit in friedvolle Bahnen‹. Luca fand den Ver­ such, den Wahnsinn des atomaren Wettrüstens in einen apokalyptisch anmutenden astronomischen Horizont zu rücken, durchaus gelungen. Wahrscheinlich wäre Erika Scharf von vielen Westdeutschen noch vor 40 Jahren als Pazifistin im Dienste des Sozialismus bezichtigt worden, dachte der junge Journalist. Er kannte diese Zeit eigent­ lich nur aus Erzählungen seiner Eltern, die sich während der 68er­Unruhen in Paris kennengelernt und deshalb immer in den höchsten Tönen vom ›bewegenden Kampf gegen das Establishment‹ geschwärmt hatten.
      Luca fiel auf, dass der Schlosskeller mit seiner dich­ ten Atmosphäre einen vorzüglichen Rahmen für die Lesung einer Schriftstellerin abgab, die vor dem Fall des Eisernen Vorhangs nirgendwo gelesen hatte, weil sie die innere Emigration bevorzugte, aber an ihrem Lebenswerk festhielt und unbeirrt im Namen der Frei­ heit weiterschrieb.

    Im Café Provinz am Marbacher Cottaplatz wartete Julia bereits seit einer halben Stunde auf Luca. Sie saß an der Bar, alle um sie herum unterhielten sich, aber nie­ mand redete mit ihr. Sie war sauer auf Luca und wollte schon gehen, überlegte es sich aber anders und holte sich noch einen Krimi aus ihrer Handtasche. Darin las sie, bis ihr ein Glas Prosecco gebracht wurde.
      »Woher kommt denn das?«, fragte sie verdutzt den Barmann, der grinsend auf einen älteren, schlampig gekleideten Mann zeigte, der sie von der hinteren Ecke der Bar aus anschaute und schüchtern einen Zeigefin­ ger hob.
      »Oh Gott!«, fluchte Julia und blickte den Spender mit einer Mischung aus Ärger und Entsetzen an. Sie schob das Glas von sich und schüttelte energisch den Kopf. Sie bildete eine Faust und streckte den Daumen nach unten. Ihr stiller Verehrer verschwand. Wenig später tippte ihr jemand auf die Schulter. »Jetzt platzt mir doch bald der Kragen!«, schimpfte
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