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Schillerhoehe

Schillerhoehe

Titel: Schillerhoehe
Autoren: Oliver Schaewen
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auch wenn sie nie davon erzählte. Einzig die Art, wie sie morgens vor dem Spiegel stand und sich betrachtete, verriet etwas davon. Es schien ihm, als ob sie sich durch und durch kannten – nach 15 gemeinsa­ men Jahren. Seit ihrer Studienzeit verstanden sie sich hervorragend, und er hätte bestimmt noch jahrelang täglich seinen Fußweg von seinem Haus in der Dann­ eckerstraße über die Schillerhöhe ins Rathaus glücklich und zufrieden zurückgelegt, wenn nicht eines Abends ein roter Ferrari vor dem Parkhotel Schillerhöhe seine Aufmerksamkeit erregt hätte. Nicht, dass er sich jemals viel aus Sportwagen gemacht hätte – aber die beiden wohlgeformten Schenkel, die er sah, als sich die Bei­ fahrertür geöffnet hatte, die braun gebrannte Haut, die durch einen tief geschlitzten schwarzen Leder­ rock ihm geradezu aufgenötigt wurde. Diese Schen­ kel ließen seine Schritte ebenso stocken wie seinen Atem. Rieker erinnerte sich noch später an dieses Ini­ tial ihrer Bekanntschaft: an seine schnellen, unsiche­ ren Blicke, mit denen er die wie ausgestorben erschei­ nende Umgebung taxierte; an die dichten Büsche auf dem kleinen Spielplatz, die ihm als Versteck dienten; und an die Spannung, mit der er in diesen, mit quälen­ der Langsamkeit verrinnenden Sekunden erwartete, wie die Frau aussehen mochte, die aus dem feuerroten Ferrari immer noch nicht ausstieg.
      Jetzt, als er sich mit ihr erneut vereinigte, erinnerte er sich an diesen Moment. Er schloss die Augen und ließ das Bild in sich aufsteigen. Wie er sich verflucht hatte, als ihr Blick ihn traf. Hinter dem Busch stehend, hüb­ sche Frauen angaffen, für eine Amtsperson ein Unding! Was wäre, wenn ihn jemand gesehen hätte? Nein, es gab damals keinen Zweifel: Sie hatte ihn gesehen, er überlegte sich noch Ausreden, falls er von ihr oder einem Dritten angesprochen würde. Vielleicht hätte er es mit einem entrüsteten Hinweis auf die Vermüllung der öffentlichen Plätze probiert. Eigentlich grotesk, an Abfall zu denken, wenn man eine der rassigsten Frauen der Stadt gesehen hatte, so überlegte er beim weiteren Nachhauseweg. Was ihn damals aber noch nachdenk­ licher machte: Sie hatte ihm zugelächelt, Verständnis für seinen Voyeurismus bekundet, ihn damit geradezu eingeladen. Wie ihn das verrückt machte.
      Norbert Rieker verfügte als Marbacher Bürgermeis­ ter über genügend Mittel, sich unauffällig über die Frau zu erkundigen, die er da abends beobachtet hatte. Keine zwei Tage später besuchte er das Hotel. Es hatte ihn nur einen kurzen Anruf gekostet, er faselte etwas davon, dass er als Rathauschef die Sorgen der Gewerbetreiben­ den aus erster Hand kennenlernen müsse und deshalb schon bald mit Gianna Signorini sprechen wolle. Er gab vor, tagsüber vielbeschäftigt zu sein und bat um einen Abendtermin. Sie bot ihm ein gemeinsames Essen an. Er dachte nicht lange nach und nahm die Einladung an. Seiner Frau Paula erzählte er damals, er wolle sich im Hotel mit einigen Managern treffen, die das Schiller­ jahr 2009 und den 250. Geburtstag des Dichters für die Stadt vermarkten wollten. Diese Lüge konnte er ver­ antworten, zumal er in diesen Tagen ständig Gesprä­ che zu diesem kulturellen Höhepunkt im kommen­ den Jahr führte. Und warum sollte er sie erschrecken, mit etwas, das noch gar nicht passiert war. Natürlich ahnte er, dass etwas Entscheidendes passiert war. Etwas, das ihm – zumindest in den vergangenen sieben Jahren seiner Zeit in Marbach – noch nicht widerfahren war. Dass er an jenem Abend erst sehr spät nach Hause kam, führte er auf die interessanten Perspektiven zurück, die sich im Gespräch mit ›bemerkenswerten Persönlich­ keiten der Kulturszene‹ ergeben hätten. So drückte er es jedenfalls am nächsten Morgen aus, als er mit Paula frühstückte.
      Die Lüge, die er seiner Frau am nächsten Morgen auftischen wollte, würde sich um die Lesung von Erika Scharf drehen, der Schriftstellerin. Er würde die vielen Begegnungen am Rande erwähnen und wie wichtig die Kontakte zu Dollinger, dem Chef des Literaturinsti­ tuts, seien und wie viele andere Große und Kleine des kulturellen Sektors da gewesen wären, um zu sehen und gesehen zu werden.
      »Warum bleibst du nicht noch ein bisschen, Nor­ berto?« Gianna Signorini, jetzt immerhin mit einem Seidennegligé bekleidet, legte zärtlich ihren Arm um seinen Hals und küsste ihn auf die rechte Wange. Rieker nahm ihre Hand, er saß auf der Bettkante und rückte
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