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Schiffbruch Mit Tiger

Schiffbruch Mit Tiger

Titel: Schiffbruch Mit Tiger
Autoren: Yann Martel
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kommt der Augenblick, an dem man einsehen muss, dass jene Flüsterstimme im Hinterkopf, die man schon so lange nicht hören will, die schlichte, schreckliche Wahrheit sagt: Da wird nichts draus. Es fehlt etwas, es fehlt der Funke, der die Geschichte wirklich zum Leben erweckt, und das hat nichts damit zu tun, ob die Fakten stimmen und das richtige Essen auf den Tisch kommt. Innerlich ist die Geschichte tot, und daran lässt sich nichts mehr ändern. Es ist, das kann ich sagen, ein Stich ins Herz, in die Tiefe der Seele. Was bleibt, ist ein brennender Hunger.
    Von Matheran gab ich per Brief Nachricht, dass mein Roman gescheitert war. Ich schrieb an eine fiktive Adresse in Sibirien, und als Absender gab ich eine genauso erfundene in Bolivien an. Ich sah noch zu, wie ein Postbeamter den Brief stempelte und in eine Kiste warf, dann saß ich da, todtraurig, entmutigt. »Und jetzt, Tolstoi?«, fragte ich mich. »Was ist der nächste große Plan, was willst du jetzt aus deinem Leben machen?«
    Nun, ich hatte immer noch ein wenig Geld, und die Unruhe trieb mich nach wie vor. Ich stand auf und spazierte aus dem Postamt. Ich würde mich in Südindien umsehen.
    Den Leuten, die mich fragten, was ich arbeite, hätte ich gern gesagt: »Ich bin Doktor«, denn in unseren heutigen Zeiten sind die Ärzte die Garanten von Magie und Wundertat. Aber ich bin sicher, schon im nächsten Augenblick wären an der Ecke zwei Busse zusammengestoßen, alle hätten mich erwartungsvoll angesehen, und inmitten der Schreie der Verletzten hätte ich erklären müssen, dass es so nicht gemeint gewesen, dass ich Doktor der Jurisprudenz sei; auf die Bitte, ihnen bei der Anklage gegen die Behörden zu helfen, die für das Unglück verantwortlich seien, hätte ich eingestehen müssen, dass es eigentlich doch nur ein Magister in Philosophie sei; auf die aufgeregten Rufe, wo denn der tiefere Sinn einer so blutigen Tragödie zu suchen sei, hätte ich antworten müssen, dass ich mir Kierkegaard für später aufgehoben hätte, und immer so weiter. Da war es schon besser, ich hielt mich an die beschämende Wahrheit.
    Unterwegs bekam ich immer wieder einmal zu hören: »Schriftsteller? Tatsächlich? Da habe ich eine Geschichte für Sie.« Meist waren es nur kleine Anekdoten, zu wenig zum Leben und zu viel zum Sterben.
    Schließlich kam ich in die Stadt Pondicherry, ein winziges unabhängiges Unionsterritorium südlich von Madras, an der Koromandelküste. Was Größe und Bevölkerung angeht, fällt die Stadt in Indien kaum ins Gewicht, aber die Geschichte hat dafür gesorgt, dass sie etwas Besonderes ist. Denn Pondicherry war einmal die Hauptstadt eines äußerst bescheidenen Kolonialstaates, Französisch-Indien. Die Franzosen hätten mit Freuden den britischen Raj überflügelt, sie lechzten danach, aber sie brachten es auf nicht mehr als eine Hand voll kleiner Häfen. Fast dreihundert Jahre lang klammerten sie sich daran. Pondicherry verließen sie 1954 , und zurück blieben schmucke weiße Häuser, breite Straßen im rechten Winkel, Straßen mit Namen wie rue de la Marine oder rue Saint-Louis, und Képis für die Polizisten.
    Ich saß im Indian Coffee House an der Nehru Street. Es besteht aus einem einzigen großen Raum mit grünen Wänden und einer hohen Decke. Oben drehen sich Ventilatoren und halten die warme, feuchte Luft in Bewegung. Aller verfügbare Platz ist mit den gleichen quadratischen Tischen ausgefüllt, jeder mit vier Stühlen. Man setzt sich, wo man Platz findet, auch zu anderen an den Tisch. Es gibt guten Kaffee und Käsetoast. Wer sich unterhalten will, findet leicht Gesellschaft. Und so kam es, dass ein rüstiger alter Herr mit strahlenden Augen und schlohweißem Haar mich ansprach. Ich bestätigte ihm, dass es in Kanada kalt ist und dass tatsächlich in manchen Gegenden Französisch gesprochen wird, ich erzählte ihm, wie gut es mir in Indien gefalle und so weiter und so fort - was eben geredet wird zwischen freundlichen, neugierigen Indern und fremden Rucksacktouristen. Als er erfuhr, was ich arbeite, machte er große Augen und nickte bedeutungsvoll. Besser, ich sah zu, dass ich weiterkam. Ich hielt die Hand in die Höhe, versuchte die Aufmerksamkeit des Kellners zu erlangen und wollte die Rechnung bestellen.
    Dann sagte der alte Herr: »Ich habe eine Geschichte, die Ihnen den Glauben an Gott geben wird.«
    Ich ließ die Hand sinken, aber ich war auf der Hut. Klopfte da ein Zeuge Jehovas an meine Tür? »Spielt Ihre Geschichte vor
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