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Schiffbruch Mit Tiger

Schiffbruch Mit Tiger

Titel: Schiffbruch Mit Tiger
Autoren: Yann Martel
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Jahren -, ging er mit mir hinunter an den Strand, breitete die Arme zum Meer und rief: »Das ist mein Geschenk für dich!«
    »Und dann hätte er dich beinahe ersäuft«, sagte Mutter.
    Ich hielt meinem Schwimmguru die Treue. Unter seinem aufmerksamen Blick strampelte ich mit den Beinen, wühlte mit den Händen den Sand auf und drehte mit jedem Zug den Kopf, um Luft zu holen. Ich muss ausgesehen haben wie ein Kind, das in Zeitlupe einen Wutanfall bekommt. Dann ging es ins Wasser, er hielt mich an der Oberfläche, und ich tat mein Bestes, um zu schwimmen. Es war weit schwieriger als an Land. Aber Mamaji war geduldig und machte mir Mut.
    Als ich die Grundbegriffe zu seiner Zufriedenheit erlernt hatte, ließen wir das Lachen und das Kreischen hinter uns, das Durcheinander, das Platschen, die blaugrünen Wellen und die tosende Brandung, und nun kam das ordentliche Rechteck, die gleichmäßige Tiefe (und das Eintrittsgeld) des Schwimmbeckens im Aschram.
    Meine ganze Kindheit lang ging ich mit ihm dreimal die Woche dorthin, ein frühmorgendliches Ritual jeden Montag, Mittwoch und Freitag, so gleichmäßig im Takt wie die Bewegungen eines guten Brustschwimmers. Ich sehe es noch vor mir, wie dieser würdige alte Herr neben mir seine Kleider auszog, wie mit jedem sorgfältig abgelegten Stück mehr von seinem Körper zum Vorschein kam, wobei stets der Anstand gewahrt blieb und er sich ganz zum Schluss ein wenig abwandte und dann eine prachtvolle ausländische Profibadehose überstreifte. Er streckte sich, dann war er bereit. Alles war von epischer Schlichtheit. Der Unterricht und später die Übungen waren hart, aber es war eine große Befriedigung, wenn man eine Technik immer schneller und besser beherrschen lernte, immer und immer wieder, fast zur Hypnose, und das Wasser wandelte sich vom geschmolzenen Blei zum flüssigen Licht.
    Ans Meer kehrte ich allein zurück, ein heimliches Vergnügen, zu dem mich die mächtigen Wogen lockten, die ihre kleinen Ausläufer in Wellen auf den Strand schickten, sanfte Lassos, mit denen sie ihren willigen indischen Indianerjungen fingen.
    Einmal, ich muss ungefähr dreizehn gewesen sein, schenkte ich Mamaji zum Geburtstag meine zwei ersten Bahnen Schmetterlingsstil. Nach der zweiten war ich so erschöpft, dass ich ihm kaum noch zuwinken konnte.
    Es wurde nicht nur geschwommen, es wurde auch vom Schwimmen geredet. Das Reden war der Teil, den Vater mochte. Je standhafter er sich weigerte, tatsächlich ins Wasser zu gehen, desto glühender malte er es sich aus. Das Fachsimpeln unter Schwimmern war seine Erholung nach alldem, was täglich bei der Arbeit im Zoo zu bereden war. Wasser ohne ein Flusspferd drin war so viel leichter zu beherrschen als Wasser mit.
    Mamaji hatte dank der Großzügigkeit der Kolonialverwaltung zwei Jahre lang in Paris studiert. Das war Anfang der dreißiger Jahre, als die Franzosen noch alles daransetzten, Pondicherry so französisch zu machen, wie die Briten den Rest von Indien britisch machen wollten. Ich kann mich nicht mehr erinnern, was Mamaji dort studiert hat. Sicher etwas, das mit Wirtschaft zu tun hatte. Er konnte wunderbar Geschichten erzählen, aber auf seine Erlebnisse am Eiffelturm oder im Louvre oder in den Cafes der Champs-Élysées wartete man vergebens. Alle seine Geschichten hatten mit Schwimmbädern und Schwimmwettbewerben zu tun. Da gab es zum Beispiel die Piscine Deligny, das älteste Schwimmbad der Stadt, dessen Anfänge bis ins Jahr 1796 zurückreichten; es war ein offenes Boot, am Quai d'Orsay festgemacht, und im Jahr 1900 der Austragungsort für die Schwimmwettkämpfe der Olympischen Spiele. Doch keine der Zeiten wurde vom Internationalen Schwimmverband anerkannt, denn das Becken war sechs Meter zu lang. Das Wasser in diesem Becken kam direkt aus der Seine, ungeklärt und ungeheizt. »Es war kalt und schmutzig«, sagte Mamaji. »Das Wasser war schon durch ganz Paris geflossen, und so sah es auch aus. Und die Leute, die drin badeten, haben dafür gesorgt, dass es noch ekliger wurde.« Vertraulich flüsternd, mit schockierenden Beispielen, mit denen er seine These untermauerte, versicherte er uns, dass der Standard der Körperhygiene bei den Franzosen ausgesprochen niedrig war. »Deligny war schon schlimm, aber noch schlimmer war das Bain Royal, auch so eine Latrine an der Seine. Im Deligny haben sie wenigstens die toten Fische rausgeholt.« Aber trotz allem war und blieb es ein Olympiabecken, und das machte es unsterblich. Mochte es auch noch so
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