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Schiffbruch Mit Tiger

Schiffbruch Mit Tiger

Titel: Schiffbruch Mit Tiger
Autoren: Yann Martel
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wenn er einsehen musste, dass auf diesem Kopf nichts zu holen war. Ich wünschte, ich könnte die Vollkommenheit beschreiben, mit der ein Seehund ins Wasser glitt, ein Klammeraffe sich von Ast zu Ast schwang, ein Löwe auch nur seinen Kopf drehte. Doch unsere Sprache scheitert in solcher See. Besser, man malt sich in Gedanken die Bilder aus, wenn man es empfinden möchte.
    Wie in der Natur sind auch im Zoo die besten Zeiten für einen Besuch der Sonnenauf- und der Sonnenuntergang. Das sind die Zeiten, zu denen die meisten Tiere zum Leben erwachen. Sie kommen aus ihren Verstecken hervor und schleichen auf Zehenspitzen ans Wasser. Sie zeigen ihre Prachtgewänder. Sie singen ihre Lieder. Sie lassen sich auf den anderen ein, vollführen ihre Rituale. Der Lohn für das aufmerksame Auge, das gespitzte Ohr, ist groß. Ich könnte die Stunden nicht zählen, die ich als stiller Zeuge der so kunstvoll stilisierten und so unendlich vielfältigen Erscheinungsformen des Lebens, der Zierde unseres Planeten, verbracht habe. Es ist etwas so Grelles, Schreiendes, Verrücktes und doch so Zartes, dass es alle Sinne benommen macht.
    Über Zoos hört man fast genauso viel Unsinn wie über Gott und die Religion. Wohlmeinende, aber schlecht informierte Leute denken, Tiere in freier Wildbahn seien »glücklich«, weil sie »frei« sind. Die Leute haben dabei meist ein großes, gut aussehendes Raubtier vor Augen, einen Löwen oder Geparden (das Leben eines Gnus oder Erdferkels ist weniger spektakulär). Sie stellen sich das wilde Tier vor, wie es nach dem Verzehr einer Beute, die ihr Los gefügig ertragen hat, einen Verdauungsspaziergang durch die Savanne macht, damit es nach dem viel zu reichlichen Essen kein Fett ansetzt. Sie stellen sich vor, wie dieses Tier stolz und zärtlich für seinen Nachwuchs sorgt, wie die ganze Familie gemeinsam auf den Ästen eines Baumes sitzt, den Sonnenuntergang bewundert und dabei zufrieden seufzt. Das Leben der wilden Tiere, glauben sie, ist einfach, edel und sinnerfüllt. Dann wird ein solches Tier von den bösen Menschen gefangen und in eine winzige Gefängniszelle gesperrt. Mit seinem »Glück« ist es damit vorbei. Es sehnt sich entsetzlich nach seiner »Freiheit« und denkt nur noch daran, wie es entkommen kann. Wird ihm diese »Freiheit« zu lange verwehrt, wird das Tier zum bloßen Schatten seiner selbst, sein Wille gebrochen. So etwas glauben die Leute.
    Aber es ist nicht wahr.
    Das Leben der Tiere in der Wildnis wird von Zwang und Notwendigkeit bestimmt, sie leben in einem unerbittlichen System von Macht und Unterwerfung, in einer Welt, in der es Furcht im Überfluss gibt und Nahrung knapp ist, in der ein Revier rund um die Uhr verteidigt werden muss und Parasiten nie auszurotten sind. Was bedeutet in so einer Welt Freiheit? In der Praxis sind Tiere der Wildnis weder in der Zeit noch im Raum frei und auch nicht in ihren persönlichen Bindungen. In der Theorie - das heißt als rein physische Möglichkeit betrachtet - könnte ein Tier überallhin gehen und alle sozialen Konventionen und Grenzen seiner Spezies hinter sich lassen. Aber ein solcher Schritt ist im Tierreich noch unwahrscheinlicher, als bei unserer eigenen Gattung, wo zum Beispiel ein Kaufmann mit allen dazugehörigen Bindungen - an Familie, Freunde, die Gesellschaft - alles hinwerfen und sein Leben hinter sich lassen könnte, davonspazieren mit nichts als dem Kleingeld in der Tasche und den Kleidern am Leib. Wenn ein Mensch, das wagemutigste und intelligenteste aller Geschöpfe, nicht einfach hinaus in die Welt zieht und ein Fremder unter Fremden wird, warum sollte dann ein Tier, das von Natur aus weit konservativer ist, es tun? Denn genau das sind Tiere: konservativ, ja geradezu reaktionär. Die kleinsten Veränderungen bringen sie aus der Fassung. Sie wollen, dass die Dinge bleiben, wie sie sie kennen, Tag für Tag, Monat für Monat. Überraschungen sind ganz und gar nicht nach ihrem Geschmack. Man sieht das an ihrem Revierverhalten. Ein Tier, ob im Zoo oder in der Wildnis, bewohnt einen bestimmten Raum, wie Schachfiguren sich über ein Schachbrett bewegen - jeder Zug bedeutet etwas. Wenn eine Eidechse, ein Bär oder ein Reh an einer bestimmten Stelle steht, dann ist das genauso wenig zufällig, genauso wenig »frei« wie die Stellung eines Springers auf einem Schachbrett. Beide künden von einem Muster, einer Absicht. Ein Tier in der Wildnis nimmt immer wieder denselben Weg, Jahr für Jahr, und immer wieder aus demselben Grund. Wenn
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