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Schiffbruch Mit Tiger

Schiffbruch Mit Tiger

Titel: Schiffbruch Mit Tiger
Autoren: Yann Martel
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zwei mächtigen Indischen Nashörnern. Aber genau das findet man. Und wenn man sich dann umdreht, bemerkt man den Elefanten, der schon die ganze Zeit dort gestanden hat, so groß, dass man ihn gar nicht gesehen hat. Und was da im Teich steht, sind Flusspferde. Je länger man hinsieht, desto mehr sieht man. Willkommen in Zootown!
    Bevor er nach Pondicherry kam, führte mein Vater ein großes Hotel in Madras. Aber Tiere waren schon immer seine Leidenschaft gewesen, und so kam er zum Zoo. Ein ganz natürlicher Schritt, könnte man denken, vom Hotelier zum Zooleiter. Aber das stimmt nicht. Ein Zoo ist in vielem das, was für den Hotelier der größte Alptraum ist. Man bedenke: Die Gäste verlassen nie das Zimmer; alle erwarten Vollpension; dauernd bekommen sie Besuch, oft laut und ungezogen. Man muss warten, bis sie sich einmal auf den Balkon bequemen, damit man ihr Zimmer sauber machen kann, und dann muss man warten, bis sie genug von der Aussicht haben und ins Zimmer zurückkehren, bevor man den Balkon putzen kann; und sauber gemacht werden muss viel, denn die Gäste sind rücksichtslos wie Säufer. Jeder weiß ganz genau, was er auf der Speisekarte haben will, jeder beklagt sich über den schlechten Service, und kein Einziger gibt jemals Trinkgeld. Um ehrlich zu sein, haben viele auch einen Zug zum Perversen. Entweder sind sie furchtbar gehemmt, und umso vehementer machen sich die unterdrückten Triebe dann von Zeit zu Zeit Luft, oder sie sind unverhohlen lüstern, und in beiden Fällen sorgen die unerhörtesten Sex- und Inzestorgien für Beschwerden am laufenden Band. Sind das etwa die Gäste, die man in seinem Gasthaus haben will? Der Zoo von Pondicherry war ein Quell von ein wenig Freude und weitaus mehr Kopfschmerz für MrSantosh Patel - Gründer, Eigentümer, Direktor, Chef von dreiundfünfzig Angestellten und mein Vater.
    Für mich war es das Paradies auf Erden. Ich habe an meine Kindheit im Zoo nur schöne Erinnerungen. Es war ein fürstliches Leben. Welcher Sohn eines Maharadschas hatte einen so prachtvollen Garten, in dem er spielen konnte? Welcher Palast hatte eine solche Menagerie? Mein Wecker in meinen Kinderjahren war ein Löwenrudel. Es war zwar keine Schweizer Uhr, aber man konnte sich darauf verlassen, dass sie sich jeden Morgen zwischen halb sechs und sechs die Seele aus dem Leib brüllten. Das Geschrei der Brüllaffen, die Pfiffe der Beos und das Krächzen der Molukkenkakadus war die Begleitmusik zum Frühstück. Wenn ich zur Schule ging, tat ich das nicht nur unter den wohlwollenden Blicken meiner Mutter, sondern auch dem der blitzäugigen Otter, der stämmigen amerikanischen Bisons und der Orang-Utans, die dazu gähnten und sich streckten. Unter den Bäumen hatte ich immer den Blick nach oben gerichtet, auf der Hut vor Pfauen, die einen bekackten. Besser, man hielt sich an jene Bäume, in denen die großen Kolonien von Flughunden hingen; in dieser frühen Morgenstunde war von ihnen kein anderer Angriff zu befürchten als das wilde Durcheinander ihres Pfeifund Schnatterkonzerts. Auf dem Weg zum Ausgang hielt ich vielleicht noch an den Terrarien und sah mir die glitzernden Frösche an, grasgrün, gelb mit dunklem Blau oder braun und blassgrün. Oder es waren Vögel, die meine Aufmerksamkeit erregten: rosa Flamingos und schwarze Schwäne und Goldhalskasuare, oder etwas Kleineres, Diamanttäubchen, Glanzstare, Inseparables, Nanday- und Goldbauchsittiche. Die Elefanten, die Seehunde, die Tiger und die Bären schliefen um diese Zeit noch, aber Paviane, Makaken, Mangaben, Gibbons, Gazellen, die Tapire, die Lamas, die Giraffen, die Mungos, das waren Frühaufsteher. Und jeden Morgen nahm ich, kurz bevor ich den Zoo durch das Hauptportal verließ, noch ein letztes Bild mit, etwas ganz Alltägliches und doch Unvergessliches: eine Schildkrötenpyramide, die schillernde Schnauze eines Mandrills, das vornehme Schweigen einer Giraffe, das Maul eines gähnenden Flusspferds, ein Ara, der mit Krallen und Schnabel den Drahtzaun emporklettert, das Begrüßungsklappern eines Schuhschnabels, der senile, lüsterne Gesichtsausdruck eines Kamels. All diese Reichtümer konnte ich im Vorbeigehen haben, auf dem Weg in die Schule. Am Nachmittag machte ich dann in Ruhe meine Experimente, wie es war, wenn ein Elefant einem die Kleider absuchte, in der friedlichen Hoffnung, dass er eine versteckte Nuss fand, oder ein Orang-Utan einem die Haare auf der Suche nach einem kleinen Läuseimbiss durchkämmte, das enttäuschte Schnaufen,
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