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Schiffbruch Mit Tiger

Schiffbruch Mit Tiger

Titel: Schiffbruch Mit Tiger
Autoren: Yann Martel
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zurück. Sie rührten mich so sehr, ich lachte und weinte in einem fort, ich konnte nicht anders.
    Schon binnen ein paar Tagen konnte ich stehen, sogar ein, zwei Schritte gehen, trotz Schwindel und Übelkeit und meiner großen Erschöpfung. Bluttests ergaben, dass ich anämisch war, mit sehr hohem Natrium und niedrigem Kaliumgehalt im Blut. Wasser sammelte sich in meinem Körper, und die Beine schwollen entsetzlich an. Es sah aus, als hätte mich jemand auf ein Paar Elefantenbeine gestellt. Mein Urin war ein tiefdunkles Gelb, fast schon Braun. Nach einer guten Woche konnte ich schon wieder einigermaßen gehen und konnte Schuhe anziehen, wenn ich sie nicht zuband. Meine Haut wurde heil, auch wenn ich heute noch Narben auf Schultern und Rücken habe.
    Das erste Mal, als ich einen Wasserhahn aufdrehte, war das laute, entsetzlich verschwenderische Gurgeln und Sprudeln ein solcher Schock, dass ich mich nicht mehr auf den Beinen halten konnte und mir in den Armen einer Krankenschwester die Sinne schwanden.
    Als ich zum ersten Mal in Kanada in ein indisches Restaurant ging, aß ich mit den Fingern. Der Kellner sah mich kritisch an, dann sagte er: »Na, frisch vom Boot, was?« Ich erbleichte. Meine Finger, noch in der Sekunde zuvor Geschmacksknospen, die das Essen ein paar Augenblicke früher genossen als die Zunge, wurden schmutzig unter seinen Augen. Sie erstarrten wie Gauner auf frischer Tat ertappt. Ich wagte nicht sie abzulecken. Verstohlen wischte ich sie an meiner Serviette ab. Er wusste nicht, wie tief diese Worte mich verletzten. Wie Nägel, die mir ins Fleisch getrieben wurden. Ich griff zu Messer und Gabel. Ich hatte solche Werkzeuge kaum je benutzt. Mir zitterten die Hände. Mein Sambar schmeckte nach gar nichts mehr.

Kapitel 2
    Er wohnt in Scarborough. Ein schmaler, kleiner Mann - höchstens eins fünfundsechzig groß. Dunkles Haar, dunkle Augen. An den Schläfen erstes Grau. Älter als vierzig kann er nicht sein. Angenehm kaffee- braune Farbe. Trotz des milden Herbstwetters zieht er für den Weg zum Lokal einen dicken Winterparka mit Pelzkapuze an. Ausdrucksvolles Gesicht. Spricht schnell, Hände ständig in Bewegung. Kein Smalltalk. Immer gleich zur Sache.

Kapitel 3
    Meinen Namen habe ich nach einem Schwimmbad. Sehr merkwürdig, wenn man bedenkt, wie wasserscheu meine Eltern waren. Einer der ersten Geschäftspartner meines Vaters war Francis Adirubasamy. Er wurde ein guter Freund der Familie. Ich habe ihn immer Mamaji genannt —
mama
ist das tamilische Wort für Onkel und ji ist die Nachsilbe, mit der man in Indien Respekt und Zuneigung ausdrückt. Als junger Mann, lange bevor ich zur Welt kam, war Mamaji ein erfolgreicher Wettkampfschwimmer gewesen, der Champion von ganz Südindien. Und so sah er sein Leben lang aus. Mein Bruder Ravi hat mir einmal erzählt, dass Mamaji bei seiner Geburt nicht aufhören wollte, Wasser zu atmen, und der Arzt musste ihn, damit er nicht erstickte, an den Füßen packen und über seinem Kopf kreisen lassen, immer und immer im Kreis herum.
    »Das hat ihn gerettet!«, sagte Ravi und machte über seinem eigenen Kopf wilde Handbewegungen. »Er musste husten, das Wasser kam raus, und von da an hat er Luft geatmet; aber sein ganzes Fleisch und Blut ist dabei in den Oberkörper gegangen. Deshalb ist seine Brust so kräftig und die Beine sind so dünn.«
    Ich glaubte es ihm. (Ravi hat mich immer geärgert. Das erste Mal, dass er Mamaji in meiner Gegenwart »MrFish« nannte, habe ich ihm eine Bananenschale ins Bett gesteckt.) Selbst als er schon über sechzig war und ein wenig gebeugt ging, als die Schwerkraft eines ganzen Lebens die bei der Geburt nach oben geschleuderten Muskeln wieder erdwärts gezogen hatte, schwamm Mamaji noch jeden Morgen im Pool des Aurobindo-Aschrams seine dreißig Bahnen.
    Er mühte sich, meinen Eltern das Schwimmen beizubringen, aber das Äußerste, was er erreichte, war, dass sie am Strand bis zu den Knien ins Wasser gingen und groteske Ruderbewegungen mit den Armen machten; wenn sie das Brustschwimmen übten, wirkten sie, als kämpften sie sich durch den Dschungel und teilten mit den Armen das hohe Gras, und wenn sie kraulten, sahen sie aus, als liefen sie einen Berg hinunter und versuchten mit den Armen die Balance zu halten. Ravi legte ähnliches Geschick an den Tag.
    Erst als ich auf den Plan trat, fand Mamaji einen willigen Schüler. Am Tag, an dem ich ins schwimmfähige Alter kam - und das, erklärte Mamaji zum Entsetzen meiner Mutter, sei mit sieben
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