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Schiffbruch Mit Tiger

Schiffbruch Mit Tiger

Titel: Schiffbruch Mit Tiger
Autoren: Yann Martel
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schrieb mich für einen Bachelor-Studiengang mit zwei Hauptfächern ein. Die beiden Fächer waren Religionswissenschaften und Zoologie. Im ersten widmete ich meinen Examensessay gewissen Aspekten der Kosmogonie Isaak Lurias, des großen Kabbalisten, der im 16 . Jahrhundert in Safed tätig war. Als Abschlussarbeit in Zoologie schrieb ich eine Funktionsanalyse der Schilddrüse des Dreifingerfaultiers. Ich wählte das Faultier, weil es mit seinem Lebenswandel — ruhig, still, in sich gekehrt - meinem zerrütteten Ich ein wenig Trost bot.
    Es gibt Zweifingerfaultiere und es gibt Dreifingerfaultiere, wobei das Unterscheidungsmerkmal die Vorderbeine sind, denn an den Hinterbeinen haben alle Faultiere drei Finger. Ich hatte das große Glück, dass ich einen Sommer lang das Dreifingerfaultier in den Dschungeln von Äquatorialbrasilien
in situ
studieren konnte. Es ist ein äußerst faszinierendes Geschöpf. Im Grunde ist die Trägheit sein einziger Wesenszug. Es schläft oder ruht im Durchschnitt zwanzig Stunden am Tag. Unser Team untersuchte die Schlafgewohnheiten von fünf wild lebenden Dreifingerfaultieren, indem wir ihnen am frühen Abend, wenn sie eingeschlafen waren, leuchtend rote, mit Wasser gefüllte Plastikschälchen auf die Köpfe stellten. Wir konnten sehen, dass sie am nächsten Morgen, wenn sich im Wasser schon die Insekten tummelten, noch immer an Ort und Stelle waren. Am regsten ist das Faultier bei Sonnenuntergang, wobei das Wort rege hier mit größtmöglicher Relativität zu verstehen ist. Das Tier bewegt sich in seiner charakteristischen hängenden Haltung mit einer Geschwindigkeit von etwa 400 Metern die Stunde den Ast eines Baumes entlang. Am Boden kriecht es, wenn es motiviert ist, mit einem Tempo von 250 Metern die Stunde zu seinem nächsten Baum, das heißt 440 -mal langsamer als ein motivierter Gepard. Unmotiviert legt es vier bis fünf Meter die Stunde zurück.
    Über die Außenwelt erfährt das Dreifingerfaultier nicht viel. Auf einer Skala von 2 bis 10 , bei der die 2 für außerordentliche Dumpfheit und 10 für extreme Wachheit steht, stufte Beebe ( 1926 ) den Tast-, Geschmacks- und Gesichtssinn und das Gehör des Faultiers mit 2 ein, den Geruchssinn mit 3 . Trifft man auf freier Wildbahn auf ein schlafendes Dreifingerfaultier, so genügt es in der Regel, es zwei- oder dreimal anzustoßen, um es zu wecken. Es wird sich dann schläfrig in jede erdenkliche Richtung umsehen, nur nicht in die, aus der der Stoß kam. Warum es sich umsieht, weiß man allerdings nicht, denn das Faultier sieht wie MrMagoo alles nur durch einen Nebel. Was das Gehör angeht, ist ein Faultier nicht wirklich taub; es interessiert sich nur nicht für Geräusche. Beebe berichtet, dass er neben schlafenden oder fressenden Faultieren Gewehre abfeuerte und kaum eine Reaktion damit hervorrief. Und den etwas höher entwickelten Geruchssinn eines Faultiers sollte man auch nicht überschätzen. Es heißt, sie könnten abgestorbene Äste riechen und dann meiden, doch Bullock ( 1968 ) berichtet, dass Faultiere »häufig« zu Boden fallen, weil sie sich an abgestorbenen Ästen festhalten.
    Man fragt sich, wie ein solches Tier überleben kann.
    Es überlebt, weil es so langsam ist. Trägheit und Schläfrigkeit schützen es vor allen Gefahren, sie sorgen dafür, dass ein Jaguar oder Ozelot, dass Harpyien und Anakondas das Faultier überhaupt nicht wahrnehmen. Im Pelz des Faultiers gedeiht eine Algenart, die in der Trockenzeit braun und in der Regenzeit grün ist, und so fügt sich das Tier stets in das Moos und Blattwerk seiner Umgebung ein und wirkt wie ein Ameisen- oder Eichhörnchennest oder einfach nur wie ein Teil des Baumes.
    Das Dreifingerfaultier lebt ein friedliches Vegetarierleben in vollkommenem Einklang mit seiner Umgebung. »Stets hat es ein gutmütiges Lächeln auf den Lippen«, schreibt Tirler ( 1966 ). Es ist ein Lächeln, das ich mit meinen eigenen Augen gesehen habe. Ich bin keiner, der leichtfertig menschliche Charakterzüge oder Gefühlsregungen auf Tiere projiziert, doch viele Male, wenn ich in jenem Monat in Brasilien ein ruhendes Faultier betrachtete, hatte ich den Eindruck, dass ich in der Gegenwart eines an den Füßen hängenden, tief in seine Meditation versenkten Jogis war oder eines ganz dem Gebet ergebenen Eremiten, in der Gegenwart von Wesen großer Weisheit, deren inneres Leben jenseits all meiner wissenschaftlichen Forschungen lag.
    Manchmal gerieten mir meine beiden Studienfächer durcheinander. Manche
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