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Schiffbruch Mit Tiger

Schiffbruch Mit Tiger

Titel: Schiffbruch Mit Tiger
Autoren: Yann Martel
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obwohl wir immer schwächer wurden, aber wir aßen von den Meerestieren, die der Koch fing. Meine Mutter, die zeitlebens Vegetarierin gewesen war, zwang sich dazu, rohen Fisch und rohes Schildkrötenfleisch zu essen. Es fiel ihr sehr schwer. Sie überwand ihren Widerwillen nie. Für mich selbst war es nicht ganz so schlimm. Der Hunger sorgte dafür, dass ich es herunterbrachte.
    Wenn man dem sicheren Tod entrinnt, dann wird man dem, dem man die Gnadenfrist verdankt, mit Sympathie begegnen - man kann nicht anders. Es war sehr aufregend, wenn der Koch eine Schildkröte an Bord hievte oder eine große Dorade fing. Es zauberte ein strahlendes Lächeln auf unsere Gesichter und eine Wärme in unsere Brust, die stundenlang vorhielt. Mutter und der Koch plauderten miteinander und scherzten sogar. Manchmal, wenn die Sonne besonders spektakulär unterging, war das Leben im Rettungsboot beinahe angenehm. Bei solchen Gelegenheiten betrachtete ich ihn - ja- geradezu zärtlich. Liebevoll. Ich stellte mir vor, wir wären gute Freunde. Er war ein brutaler Kerl, selbst wenn er guter Laune war, aber wir taten so, als merkten wir es nicht, sogar vor uns selbst. Er prophezeite, wir würden eine Insel finden. Das war unsere größte Hoffnung. Bis zur Erschöpfung suchten wir mit den Augen den Horizont ab nach einer Insel, die niemals auftauchte. Und während wir aufs Meer spähten, stahl er Proviant und Wasser.
    Der flache, endlose Pazifik umringte uns wie eine hohe Mauer. Ich dachte, wir würden sie nie überwinden.
    Er hat sie getötet. Der Koch hat meine Mutter getötet. Der Hunger quälte uns. Ich war schwach. Ich konnte eine Schildkröte nicht festhalten. Ich war schuld, dass sie uns entwischte. Er schlug mich. Mutter schlug ihn. Er schlug zurück. Sie drehte sich zu mir um und sagte: ›Geh!‹ Sie stieß mich zum Floß. Ich sprang. Ich dachte, sie würde nachkommen. Ich landete im Wasser. Ich kletterte auf das Floß. Sie kämpften. Ich saß einfach da und sah zu. Meine Mutter kämpfte mit einem erwachsenen Mann. Er war gemein und sehr stark. Er packte sie am Handgelenk und verdrehte ihr den Arm. Sie schrie auf und stürzte. Er beugte sich über sie. Dann sah ich das Messer. Er hob es empor. Es stach zu. Als es das nächste Mal nach oben kam, war es rot. Mehrere Male fuhr es auf und nieder. Ich konnte sie nicht sehen. Sie lag am Boden des Bootes. Ich sah nur ihn. Er hielt inne. Er hob den Kopf und sah mich an. Er schleuderte etwas zu mir herüber. Blut spritzte mir ins Gesicht. Keine Peitsche hätte mir einen schlimmeren Hieb versetzen können. Ich hielt den Kopf meiner Mutter in Händen. Ich ließ ihn los. Er versank in einer Wolke aus Blut, zog ihren Haarzopf hinter sich her wie einen Schweif. Fische umkreisten ihn auf dem Weg in die Tiefe, bis der lange graue Schatten eines Hais seinen Weg kreuzte und er verschwand. Ich blickte auf. Er war nicht zu sehen. Er versteckte sich am Boden des Boots. Er tauchte erst auf, als er die Leiche meiner Mutter über Bord warf. Sein Mund war rot verschmiert. Das Wasser brodelte vor Fischen.
    Ich verbrachte den Rest dieses Tages und die Nacht auf dem Floß und beobachtete ihn. Wir sprachen kein Wort. Er hätte das Verbindungsseil kappen können. Aber er tat es nicht. Er behielt mich in seiner Nähe wie ein schlechtes Gewissen.
    Am Morgen zog ich vor seinen Augen an dem Seil und bestieg das Rettungsboot. Ich war sehr schwach. Er sagte nichts. Ich bewahrte die Ruhe. Er fing eine Schildkröte. Er gab mir das Blut. Er schlachtete sie und legte die besten Teile für mich auf die Mittelbank. Ich aß.
    Dann kämpften wir, und ich tötete ihn. Seine Miene war ausdruckslos, zeigte weder Verzweiflung noch Zorn, weder Angst noch Schmerz. Er gab auf. Er wehrte sich zwar, ließ aber zu, dass ich ihn tötete. Er wusste, er war zu weit gegangen, selbst nach seinen brutalen Maßstäben. Er war zu weit gegangen, und jetzt wollte er nicht mehr leben. Aber nicht ein einziges Mal sagte er: ›Es tut mir Leid.‹ Warum halten wir fest an unserem sündigen Tun?
    Das Messer lag die ganze Zeit offen auf der Bank. Wir wussten es beide. Er hätte es von Anfang an in der Hand halten können. Er hatte es selbst dorthin gelegt. Ich nahm es und stieß es ihm in den Bauch. Sein Gesicht wurde zur Grimasse, doch er blieb auf den Beinen. Ich zog das Messer heraus und stieß erneut zu. Das Blut floss in Strömen. Trotzdem fiel er nicht. Er sah mir in die Augen und hob dabei fast unmerklich den Kopf. Wollte er damit etwas sagen?
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