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Schiffbruch Mit Tiger

Schiffbruch Mit Tiger

Titel: Schiffbruch Mit Tiger
Autoren: Yann Martel
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Ich flüsterte: ›Es tut mir Leid, Mutter, es tut mir Leid.‹ Mir standen die Tränen in den Augen. Als ich aufblickte, sah ich, dass es ihr ebenso ging. Aber sie sah mich nicht an. Ihre Augen waren auf eine Erinnerung gerichtet, irgendwo in weiter Ferne.
    ›Wir sind ganz allein, Piscine, ganz allein‹, sagte sie mit einer Stimme, die alle Hoffnung in mir sterben ließ. Nie im Leben habe ich mich so einsam gefühlt wie in diesem Augenblick. Wir waren schon seit zwei Wochen im Boot, und es forderte seinen Tribut. Wir konnten nicht mehr so tun, als ob wir hofften, dass Vater und Ravi überlebt hatten.
    Als wir uns umdrehten, hielt der Koch das Bein am Knöchel über das Wasser und ließ die Flüssigkeit heraustropfen. Mutter legte dem Matrosen die Hand über die Augen.
    Er starb friedlich. Das Leben sickerte aus ihm heraus wie die Flüssigkeit aus seinem Bein. Der Koch machte sich sofort über ihn her. Das Bein hatte keine brauchbaren Köder ergeben. Das tote Fleisch war verfault und hielt nicht am Angelhaken: Es löste sich im Wasser einfach auf. Das Scheusal ließ nichts verkommen. Er schnitt alles klein, sogar die Haut des Matrosen und jeden Zentimeter seiner Därme. Selbst die Genitalien verarbeitete er. Als er mit dem Torso fertig war, kamen die Arme und Schultern und das verbliebene Bein an die Reihe. Mutter und mir war schwindlig vor Schmerz und Entsetzen. Mutter schrie ihn an: ›Wie können Sie so etwas tun, Sie Scheusal? Sind Sie kein Mensch? Haben Sie keinen Anstand? Was hat der arme Junge Ihnen getan? Sie Scheusal! Sie Scheusal!‹ Der Koch antwortete mit einer Unflätigkeit.
    ›Mein Gott, bedecken Sie doch wenigstens sein Gesicht!‹, schrie Mutter. Es war ein unerträglicher Anblick: das schöne Gesicht, so edel und reglos, und dann das, was nun mit ihm geschah. Der Koch stürzte sich auf den Kopf des Matrosen; vor unseren Augen skalpierte er ihn und riss ihm das Gesicht vom Schädel. Mutter und ich übergaben uns.
    Als er fertig war, warf er die Überreste des Gemetzels über Bord. Wenig später lagen überall im Boot Fleischstreifen und Stücke von inneren Organen zum Trocken in der Sonne. Wir schauderten entsetzt zurück. Wir versuchten, nicht hinzusehen. Aber der Geruch blieb.
    Als er das nächste Mal in ihre Nähe kam, gab Mutter dem Koch eine Ohrfeige, und der laute Knall ließ die Luft erzittern. Es war erschreckend, dass meine Mutter so etwas tat. Und es war heroisch. Es war ein Akt des Zorns und des Mitleids, der Trauer und der Tapferkeit. Sie tat es im Gedenken an den armen Matrosen. Sie tat es zur Rettung seiner Würde.
    Ich war verblüfft, und der Koch ebenfalls. Er stand reglos und stumm, und Mutter blickte ihm zornig ins Gesicht. Mir fiel auf, dass er ihr nicht in die Augen sah.
    Wir zogen uns in unsere getrennten Bereiche zurück. Ich blieb in ihrer Nähe. Ich bewunderte sie abgöttisch dafür, aber umso tiefer war auch meine Angst um sie.
    Mutter behielt ihn im Auge. Zwei Tage später ertappte sie ihn. Er wollte es heimlich tun, aber sie sah, wie er die Hand zum Munde führte. Sie schrie: ›Ich habe Sie gesehen! Sie haben gerade ein Stück gegessen! Sie haben gesagt, es sind Köder! Ich habe es gewusst. Sie Scheusal! Sie Bestie! Wie können Sie so etwas tun? Er ist ein
Mensch!
Er ist Ihresgleichen!‹ Wenn sie erwartet hatte, dass er den Bissen reumütig ausspucken und sich entschuldigen würde, hatte sie sich geirrt. Er kaute seelenruhig weiter. Ja, er hob sogar den Kopf und schob sich den Rest des Fleischstreifens demonstrativ in den Mund. ›Schmeckt wie Schweinefleisch‹, brummte er. Mutter wandte sich abrupt ab - anders konnte sie ihre Empörung und ihren Abscheu nicht zum Ausdruck bringen. Er aß einen weiteren Streifen. ›Ich fühle mich schon kräftiger‹, raunte er. Er konzentrierte sich auf seine Angel.
    Wir hatten jeder ein Ende des Rettungsboots für uns. Es ist erstaunlich, wie die Willenskraft Mauern errichten kann. Ganze Tage lebten wir, als sei er gar nicht da.
    Aber wir konnten ihn nicht völlig ignorieren. Er war eine Bestie, aber eine schlaue. Er war geschickt mit den Händen, und er kannte das Meer. Er steckte voller guter Ideen. Er war es, der auf den Gedanken kam, ein Floß zu bauen, damit wir besser fischen konnten. Dass wir überhaupt längere Zeit überlebten, verdankten wir ihm. Ich half ihm nach Kräften. Er war sehr aufbrausend, schrie mich an und beschimpfte mich.
    Mutter und ich aßen nichts von dem Fleisch des Matrosen, nicht einen einzigen Bissen,
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