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Schiffbruch Mit Tiger

Schiffbruch Mit Tiger

Titel: Schiffbruch Mit Tiger
Autoren: Yann Martel
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das Fleisch durchtrennen und eine Aderpresse anlegen. Ich habe seine widerlichen Einflüsterungen noch im Ohr. Er wolle die Aufgabe übernehmen, um das Leben des Matrosen zu retten, sagte er, aber wir müssten ihn festhalten. Als Betäubungsmittel hätten wir nichts als die Überraschung. Wir stürzten uns auf ihn. Mutter und ich hielten seine Arme fest, der Koch setzte sich auf das gesunde Bein. Der Matrose bäumte sich auf und schrie. Sein Brustkorb hob und senkte sich. Der Koch war geschickt mit dem Messer. Das Bein fiel herunter. Sofort lie-ßen Mutter und ich den Matrosen los. Wir dachten, vielleicht bäumt er sich nicht mehr so auf, wenn wir ihn nicht mehr festhalten. Wir hatten uns vorgestellt, dass er still liegen blieb. Aber das tat er nicht. Er setzte sich sofort auf. Seine Schreie waren umso entsetzlicher, weil wir sie nicht verstehen konnten. Er schrie, und wir starrten ihn wie gebannt an. Alles war voller Blut. Es war entsetzlich anzusehen, wie panisch der Matrose zuckte und wie still sein Bein am Boden lag. Er sah das Bein unverwandt an, als flehe er es an, zu ihm zurückzukommen. Schließlich sank er nach hinten. Wir gingen in aller Eile zu Werke. Der Koch bedeckte den Knochen mit etwas Haut. Wir wickelten den Stumpf in ein Stück Stoff und banden ihn oberhalb der Wunde mit einem Seil ab, um die Blutung zu stillen. Wir betteten den Matrosen so bequem wie möglich auf eine Matratze aus Schwimmwesten und hielten ihn warm. Ich hatte längst allen Glauben verloren, dass wir ihn retten könnten. Ich konnte mir nicht vorstellen, dass ein menschliches Wesen so viel Schmerz ertragen konnte, ein solches Gemetzel. Den ganzen Abend und die ganze Nacht über stöhnte er, und er atmete schwer und unregelmäßig. Manchmal phantasierte er wild. Ich rechnete damit, dass er im Laufe der Nacht sterben würde.
    Er klammerte sich ans Leben. Bei Tagesanbruch lebte er immer noch. Immer wieder verlor er das Bewusstsein. Mutter gab ihm Wasser. Mein Blick fiel auf das amputierte Bein. In der ganzen Aufregung war es beiseite geschubst worden und in der Dunkelheit in Vergessenheit geraten. Eine Flüssigkeit war herausgesickert, und es sah dünner aus. Ich nahm eine Schwimmweste wie einen Handschuh. Ich packte das Bein und hob es hoch.
    ›Was hast du vor?‹, fragte der Koch
    ›Ich will es über Bord werfen‹, erwiderte ich.
    ›Bist du verrückt? Das brauchen wir als Köder. Deswegen haben wir es doch gemacht.‹
    Offenbar merkte er, dass er sich verplappert hatte, denn plötzlich wurde er leiser. Er wandte sich ab.
    ›
Deswegen
haben wir es gemacht?‹, fragte Mutter. ›Was wollen Sie damit sagen?‹
    Er tat, als sei er beschäftigt.
    Mutter hob die Stimme. ›Wollen Sie damit sagen, wir haben diesem armen Jungen ein Bein abgeschnitten, um
Angelköder
zu bekommen, und nicht um sein Leben zu retten?‹
    Die Bestie schwieg.
    ›Antworten Sie!‹, schrie Mutter.
    Wie ein in die Enge getriebenes Tier hob er den Blick und funkelte sie an. ›Unsere Vorräte gehen zur Neige‹, fauchte er. ›Wir brauchen mehr zu essen, sonst sterben wir.‹
    Mutter starrte ihn nicht minder hasserfüllt an. ›Unsere Vorräte gehen
nicht
zur Neige! Wir haben reichlich Proviant und Wasser. Wir haben große Mengen Schiffszwieback, mit denen wir durchhalten können, bis Hilfe kommt.‹ Sie ergriff das Kunststoffgefäß, in dem wir die geöffneten Zwiebackpackungen aufbewahrten. Es fühlte sich unerwartet leicht an. In seinem Inneren rasselten nur einige wenige Krümel. ›Was!‹ Sie öffnete das Gefäß. ›Wo sind die Zwiebacke? Gestern Abend war die Dose noch voll!‹
    Der Koch wandte den Blick ab. Und ich ebenfalls.
    ›Sie selbstsüchtiges Scheusal!‹, schrie Mutter. ›Wenn unsere Vorräte zur Neige gehen, dann nur wegen
Ihrer
Gefräßigkeit!‹
    ›Er hat auch davon gegessen‹, sagte er und nickte in meine Richtung.
    Mutter sah mich an. Mir rutschte das Herz in die Hose.
    ›Stimmt das, Piscine?‹
    ›Es war Nacht, Mutter. Ich schlief ja halb und hatte solchen Hunger. Er hat mir einen Zwieback gegeben. Ich habe ihn gegessen und mir nichts dabei gedacht ...‹
    ›So, so, nur einen?‹, spottete der Koch.
    Jetzt war es Mutter, die den Blick abwandte. Ihr Zorn verebbte. Wortlos wandte sie sich wieder dem Matrosen zu.
    Ich sehnte mich nach ihrem Zorn. Ich sehnte mich danach, dass sie mich bestrafte. Alles, nur nicht dieses Schweigen. Ich machte mich an den Schwimmwesten zu schaffen, auf denen der Matrose lag, nur um in ihrer Nähe zu sein.
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