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Schiffbruch Mit Tiger

Schiffbruch Mit Tiger

Titel: Schiffbruch Mit Tiger
Autoren: Yann Martel
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spiegelt?«
    »Ja.«
    »Worte, die nicht der Wirklichkeit widersprechen?«
    »Genau das.«
    »Aber Tiger
sind
doch Wirklichkeit.«
    »Oh, bitte, keine Tiger mehr.«
    »Ich weiß, was Sie wollen. Sie wollen eine Geschichte, die Sie nicht überrascht. Eine, die Ihnen bestätigt, was Sie schon wissen. Eine, die Sie nicht weiter und nicht tiefer blicken lässt, eine, die Sie nicht mit neuen Augen betrachten müssen. Sie wollen eine zweidimensionale Geschichte. Eine leblose Geschichte. Die Dürre der Wirklichkeit, in der keine Saat aufgeht.«
    »Ähm ...«
    »Sie wollen eine Geschichte ohne Tiere.«
    »Ja!«
    »Ohne Tiger und ohne Orang-Utans.«
    »Richtig.«
    »Ohne Hyänen und ohne Zebras.«
    »Kein Einziges davon.«
    »Ohne Erdmännchen und Mungos.«
    »Von denen wollen wir nichts mehr hören.«
    »Ohne Giraffen und Flusspferde.«
    »Wir stopfen uns die Ohren zu!«
    »Da hatte ich Sie also recht verstanden. Sie wollen eine Geschichte ohne Tiere.«
    »Wir wollen eine Geschichte ohne Tiere, die uns erklärt, warum die
Tsimtsum
untergegangen ist.«
    »Lassen Sie mich nachdenken.«
    »Natürlich. Ich glaube, jetzt geht es voran. Jetzt wird er endlich vernünftig. «
    [Langes Schweigen]
    »Dann erzähle ich Ihnen eine andere Geschichte.«
    »Gut.«
    »Das Schiff sank. Es gab einen Ton von sich wie ein gewaltiges metallisches Rülpsen. Sachen blubberten an der Oberfläche, dann verschwanden sie. Ich trieb im Pazifischen Ozean. Ich schwamm zum Rettungsboot. Noch nie im Leben war ich mit solcher Macht geschwommen. Ich hatte das Gefühl, ich kam überhaupt nicht vom Fleck. Immer wieder schluckte ich Wasser. Mir war furchtbar kalt. Meine Kräfte ließen rasch nach. Ich hätte es nicht geschafft, hätte der Koch mir nicht einen Rettungsring zugeworfen und mich an Bord gezogen. Ich kletterte ins Boot und sank zusammen.
    Vier von uns überlebten. Mutter klammerte sich an ein Bananennetz und erreichte so das Rettungsboot. Der Koch war schon an Bord, der Matrose ebenfalls.
    Er aß die Fliegen. Der Koch, nicht der Matrose. Wir waren noch keinen Tag im Boot, wir hatten genügend Proviant und Wasser für Wochen, wir hatten Angelruten und Solardestillen, es gab keinen Grund anzunehmen, dass wir nicht bald gerettet würden. Und doch stand er da, fuchtelte mit den Armen und fing Fliegen, die er gierig verschlang. Vom ersten Augenblick an hatte er eine geradezu panische Angst vor dem Verhungern. Er nannte uns Narren und Idioten, weil wir an seinem Festmahl nicht teilhaben wollten. Wir fanden ihn widerwärtig und ekelhaft, aber wir zeigten es nicht. Wir waren äußerst höflich. Er war ein Fremder und ein Ausländer. Mutter lächelte und schüttelte den Kopf und hob nur abwehrend die Hände. Er war ein widerlicher Kerl. Sein Gaumen war so wählerisch wie eine Müllhalde. Er aß auch die Ratte. Er schnitt sie in Stücke und trocknete sie in der Sonne. Ich - nun, um ehrlich zu sein - ich habe auch ein kleines Stückchen probiert, ein winzig kleines, als Mutter nicht hinsah. Ich war so hungrig. Er war wirklich eine Bestie, dieser Koch, übellaunig und heuchlerisch.
    Der Matrose war jung. Genau genommen war er älter als ich, wohl Anfang zwanzig, aber er hatte sich beim Sprung vom Schiff das Bein gebrochen, und der Schmerz machte ihn wieder zum Kind. Er war schön. Das Gesicht völlig bartlos, die Haut glatt und glänzend. Seine Züge - das breite Gesicht, die flache Nase, die schmalen Augen mit der auffälligen Lidfalte-wirkten so elegant. Ich fand, er sah aus wie ein chinesischer Kaiser. Er litt entsetzlich. Er sprach kein Englisch, nicht ein einziges Wort, nicht einmal
ja
oder
nein
oder
hallo
oder
danke.
Nur Chinesisch. Wenn er etwas sagte, verstanden wir kein Wort. Er muss sich sehr einsam gefühlt haben. Wenn er weinte, bettete Mutter seinen Kopf in ihren Schoß und hielt ihm die Hand. Es war sehr, sehr traurig. Er litt, und wir konnten nichts tun.
    Am rechten Oberschenkel hatte er einen komplizierten Bruch. Der Knochen ragte aus dem Fleisch. Er schrie vor Schmerz. Wir richteten sein Bein so gut wir konnten und gaben ihm zu essen und zu trinken. Aber sein Bein entzündete sich. Obwohl wir den Eiter jeden Tag entfernten, wurde es schlimmer. Sein Fuß schwoll an und wurde schwarz.
    Die Idee stammte vom Koch. Er war eine Bestie. Er tyrannisierte uns. Er flüsterte, dass der Brand immer weiter um sich greifen würde und dass nur eine Amputation den Matrosen retten könne. Da der Knochen im Oberschenkel bereits gebrochen sei, müsse man nur noch
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