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Schicksal aus zweiter Hand

Schicksal aus zweiter Hand

Titel: Schicksal aus zweiter Hand
Autoren: Heinz G. Konsalik
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sah in die Halle hinein, in die Silos. Er grüßte höflich.
    »Nichts!« – »Mußte früher kommen!« – »Wer pennt, rostet!« – »Alles vergeben!«
    Und in der Tasche hatte er neunzig Pfennig.
    Im Zollhafen bekam er Arbeit. Für eine Stunde. Die Stunde vierzig Pfennig! Er mußte den Lagerhallengang kehren und mit einem feuchten Lappen putzen. Südfrüchte waren angesagt. Bananen, südafrikanische Äpfel. Sie liebten Sauberkeit.
    Er putzte den Flur und hatte einen unbändigen Appetit auf Bananen und Äpfel. Für einhunderttausend Mark kann ich mir alles kaufen, durchfuhr es ihn. Was mir gefällt, was mir schmeckt, was ich will. Was sind einhunderttausend Mark für einen Reeder wie Herrn von Buckow. Ihm gehören neun Schiffe zwischen fünftausend und elftausend Tonnen. Frachter, Kombischiffe, ein Tanker, ein Trampdampfer. Und eine Tochter Rita hatte er auch. Fünf Monate alt. Verdammt – man sollte nicht daran denken.
    Als die Stunde herum war, bekam er seine vierzig Pfennig und stand wieder auf dem Hafenkai in der Septembersonne. Er rechnete wieder. Neunzig und vierzig, das sind eine Mark und dreißig! Damit konnte man nach Rahlstedt fahren, in die Laubenkolonie ›Gute Hoffnung‹. Dort hatte einmal ein Freund von ihm gewohnt, ein Kieler. Jens Dooren hieß er. Vor einem Jahr zu drei Jahren Zuchthaus verurteilt wegen Falschmünzerei und Widerstand gegen die Staatsgewalt. Jetzt stand die Laube leer und wucherte zu. Niemand kümmerte sich darum.
    Frank Gerholdt verließ den Hafen und stieg in die Straßenbahn in Richtung Wandsbek. »Einmal umsteigen«, sagte er. Dann lehnte er an der Messingstange der hinteren Plattform und starrte auf die vorbeifliegenden Häuser, Menschen, Wagen und Läden. Was will ich eigentlich in Rahlstedt, dachte er. Was will ich in der alten Laube? Ich habe dort doch gar nichts zu suchen. Ich bin doch ein anständiger Mensch, der nachts auf Bänken schläft und für vierzig Pfennig die Stunde Flure schrubbt. Oder will ich ein Verbrecher werden und suche mir einen Schlupfwinkel? In der Laubenkolonie ›Gute Hoffnung‹. Will ich das wirklich?
    Er stieg in Wandsbek um nach Rahlstedt. In der Laubenkolonie fand er schnell das Häuschen Jens Doorens. Ein verblichenes Holzschild hing schief am Zaun. Das Land war verunkrautet, die Farbe an der Laube bröckelte ab und war durch Regen und Wind vom Holz gelaugt. Aber sie hatte noch ein Dach, ein festes Dach. Und drinnen war es trocken, stand ein Bett an der Wand, ein Schrank, ein Ofen, ein Tisch und zwei Schemel. Verstaubt, dreckig. Ein Heim! Ein Verbrecherheim, wie es kein Edgar Wallace besser beschreiben konnte. Ein ›home‹, wie es der Gangster in den USA nennt.
    Frank Gerholdt saß auf dem staubigen Bett und hatte die Augen geschlossen.
    So weit bin ich also, dachte er. So wird ein Verbrecher geboren. Merkwürdig, wenn man es so miterlebte, von Phase zu Phase. Es begann mit einem Zeitungsartikel und endet mit – ja, mit was endet es? Mit Zuchthaus? Mit dem Todesurteil? Oder mit einem neuen Leben? Mit der Geburt eines neuen Frank Gerholdt, geboren aus Gemeinheit, Betrug, Scheußlichkeit, Tränen, Schmerz und Flüchen?
    Der Tag ging vorüber. Von der Elbe schoben sich die Abendwolken heran. Er zündete kein Licht an … er saß im Dunkeln und schämte sich vor sich selbst. Aber er war nicht stark genug, seine Gedanken zu verscheuchen, sich loszulösen von dem verführerischen Zwang: einhunderttausend Mark für ein Kind. Für ein Kind, dem nichts geschehen würde, als daß es hin- und hergetragen wurde. Ein ganz, ganz neues Leben für eine einzige, schuftige Tat.
    In der Nacht schlich Frank Gerholdt um die Villa Werner von Buckows . Er betrachtete den weißen Bau in Blankenese von allen Seiten … er lag in den Büschen und beobachtete, wer durch die erleuchteten Fenster zu sehen war … ein Mädchen mit einer Spitzenhaube … eine junge schöne Frau – sicherlich Renate von Buckow – … einmal kurz eine große, schlanke Gestalt in einem Abendanzug, der Reeder Werner von Buckow , der Herr über neun Schiffe. Der Besitzer einer Million, dem sein Kind einhunderttausend Mark wert sein würde.
    Frank Gerholdt umschlich noch immer das Haus, als die Lichter längst erloschen waren. Auf der Unterelbe fuhren die Schiffe zum Meer hin … ihre erleuchteten Bullaugen und Brücken schwebten durch die Dunkelheit wie geheimnisvolle, schwerelose Wesen. Von ferne gellte ein Horn auf, ein Scheinwerfer glitt über das Wasser. Zollboote.
    Jetzt schlafen sie,
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