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Schicksal aus zweiter Hand

Schicksal aus zweiter Hand

Titel: Schicksal aus zweiter Hand
Autoren: Heinz G. Konsalik
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dachte er. Zufrieden, satt. Und er hatte Hunger, seit gestern hatte er nichts mehr gegessen … Fünfzig Pfennig klimperten in seiner Tasche. Ein Leben mit fünfzig Pfennig … ist das noch ein Leben? Und zwei Millionen Arbeitslose standen in langen Schlagen vor den Stempelstellen.
    Er saß an der Elbe und starrte über das schwarze Wasser. Das ist alles kein Grund, ein Verbrecher zu werden, empfand er. Wenn diese zwei Millionen Arbeitslose alle ein Kind rauben würden – zwei Millionen geraubte Kinder! Das wäre das Chaos, der Ausbruch einer Hölle.
    Als eine ferne Kirchenuhr zwei Uhr morgens schlug, ging er die Elbe zurück nach Altona. Ihm fehlte der Mut. Um fünf Uhr stand er wieder am Hafen, bekam für zwei Tage Arbeit in einem Getreidesilo und mußte zehn Stunden lang Zweizentnersäcke, die eine automatische Waage abfüllte, in Eisenbahnwaggons schleppen. Zwei Tage lang. Am Abend des zweiten Tages war er lahm, als seien ihm sämtliche Knochen gebrochen … er schleppte sich in die Laube seines Freundes und warf sich auf das staubige Bett.
    »Morgen tue ich es!« sagte er laut zu sich, als wolle er sich Mut zusprechen. »Morgen! Ganz bestimmt! Ich tue es!« schrie er. Seine Stimme überschlug sich. Er zitterte am ganzen Körper wie in einem Krampf.
    In dieser Nacht schlief er nicht … er ging auch nicht zum Hafen. Er aß das mitgebrachte Brot und eine Büchse Pferdefleisch, saß an dem kleinen Fenster hinter der vergilbten Gardine und beobachtete, wie in den anderen Gärten die Leute arbeiteten. Später schlich er sich hinaus, fuhr mit einem Omnibus nach Blankenese und strich wie ein hungriger Wolf durch die Villenstraßen, hinter den Gärten vorbei, die Unterelbe entlang. Um die Villa Renate machte er einen großen Bogen … einmal sah er von ferne, wie ein Stubenwagen mit einem Baldachin aus rosa Tüll auf dem kurz geschorenen Rasen vor der Terrasse stand. Ein Kindermädchen saß daneben und las in einem Buch.
    Das Kind!
    Frank Gerholdt verbarg sich hinter einem Busch und starrte auf den weiten Rasen. In dem Korb bewegte sich die Decke … es strampelte, ein paar kleine Fäuste stießen in die Sonne. Das Mädchen erhob sich … es beugte sich über den Wagen, für einen Augenblick sah er den kleinen Kopf, als das Kind in den Kissen aufgerichtet wurde. Blonde Locken. Leuchtend wie Gold. Jetzt wurde es weggefahren … die Abendkühle stieg vom Wasser herauf, die Schatten waren lang.
    Gespannt lag er im Gebüsch und beobachtete das Haus. Da – das dritte Fenster neben der Terrasse, das mußte das Kinderzimmer sein. In ihm ging das Licht an, er sah die Umrisse des Kindermädchens, es lief hin und her. Ein größerer Schatten mischte sich dazwischen. Werner von Buckow … sicherlich sagte er jetzt der kleinen Rita Gute Nacht und gab ihr einen Kuß auf den kleinen, rosigen Mund oder auf die blauen, großen, strahlenden Augen.
    Frank Gerholdt biß sich auf die Lippen. Nicht denken, bloß nicht denken! Tue es und habe für einen Augenblick keine Seele. Denke nur an das Geld.
    Gegen elf Uhr abends wurde es dunkel im Haus. Um halb ein Uhr überkletterte Gerholdt die Hecke und schlich über den Rasen der Terrasse zu. Vor dem breiten Fenster des Kinderzimmers blieb er stehen … es war angelehnt, er brauchte nur leicht dagegen zu drücken, um unhörbar einzusteigen. Alles war so einfach, so verblüffend zwanglos. Er schob sich an das Fenster heran und lauschte. Im Zimmer war es still. Vorsichtig stieß er den Fensterflügel auf und stemmte sich auf die Fensterbank. Als er die Gardine zur Seite raffte, durchfuhr ihn ein eisiger Schreck.
    Neben dem Kinderbett stand ein großes Bett. In ihm schlief das Kindermädchen. Es hatte das Gesicht zum Fenster gedreht und atmete leise, regelmäßig.
    Damit hatte er nicht gerechnet. Wenn sie aufwachte, mußte er Gewalt anwenden, damit sie nicht schrie und das ganze Haus alarmierte. Aber gerade Gewalt wollte er nicht sehen, er haßte sie; er wollte das Kind stehlen, ganz leise, unbemerkt, so, als habe ein Geist es weggetragen. Und so sollte es auch wiederkommen, unversehrt, gesund, in seiner Unschuld ihn genau so anlächelnd wie das Kindermädchen oder den Vater und die Mutter.
    Er ging auf Zehenspitzen an dem großen Bett vorbei und beugte sich über das Kinderbett. Rita schlief, die Fäustchen geballt neben den Kopf gelegt. Die Decke hatte sich etwas verschoben, ein Beinchen ragte hervor, ein krummes Beinchen in einem Strampelchen.
    Frank Gerholdt zögerte. Zum letztenmal hielt ihn
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