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Schicksal aus zweiter Hand

Schicksal aus zweiter Hand

Titel: Schicksal aus zweiter Hand
Autoren: Heinz G. Konsalik
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erhalten und mit Ihnen zu sprechen. Sie genügen aber auch, mich dem zu entziehen, was man ›irdische Gerechtigkeit‹ nennt, Gerechtigkeit nennen kann.« Frank Gerholdt richtete sich in den Kissen auf. Er war ein über mittelgroßer, breit gebauter Mann mit einem runden Kopf, grauen, etwas lockigen Haaren, braunen Augen und einem Mund, der merkwürdig weich lächeln konnte, aber von einem zum anderen Augenblick schmal werden konnte und hart und brutal. »Ich habe Sie gebeten, Herr Pastor, eine Beichte zu hören. Nicht, weil ich glaube, daß ich mich damit freikaufen kann vor der himmlischen Gerechtigkeit, nicht, weil ich Gott fürchte oder die ewige Verdammnis, wie es so schön in den Sonntagspredigten von der Kanzel klingt – ich weiß, daß ich dort oben ebenso wenig zu erwarten habe wie hier auf Erden. Vor allem, weil ich nichts bereuen kann, was ich getan habe –«
    »Sie wollen nicht bereuen, Herr Gerholdt?«
    »Ich kann es nicht. Das ist etwas anderes als wollen! Ich habe ein reiches Leben geführt, gewiß, ich habe mit meinen Händen ein Leben aufgebaut, auf das ich stolz sein kann. Soll ich das bereuen? Nur der Anfang dieses eigenen Lebens war dunkel, schwer, schuldbeladen … aber ich habe diese Schuld in zwanzig Jahren abgetragen, Stück für Stück, und ich habe mir ein Schicksal aufgebaut, Stein für Stein …«
    »Ein Schicksal aus zweiter Hand, Herr Gerholdt.«
    »Was heißt das, Herr Pastor?! Wo war die erste Hand?! Das Leben in den Slums von Hamburg? Das Vegetieren als Gelegenheitsarbeiter auf den Werften? Das Essen in den Hafenkneipen, wo der Fisch stank und das Fleisch sauer war? Das Hungern, das Stempeln, das Anstellen nach Arbeit, die Mißachtung derer, die verdienten, und die Gemeinheit der anderen, mit denen man zusammenleben mußte? War das die erste Hand? Das gottgewollte Schicksal?!« Gerholdt beugte sich zur Seite und nahm einen Schluck Wasser aus dem Glas, das neben der Lampe auf dem Nachttisch stand. »Lieber Herr Pastor – Sie sitzen hier bei einem Sterbenden, nicht, um zu reformieren, sondern um zuzuhören. Bloß anzuhören, was dieser Sterbende, dieser Mensch ohne Himmel und Hölle, dieser kleine, dumme, nur an sich glaubende Mensch auf dieser Erde erlebt hat. Nennen Sie es auch: verbrochen hat. Es ist eins … Und wenn ich zu Ende bin mit meinem Leben, dann sagen Sie mir, was Gott denken könnte, wenn ich nachher vor ihm stehe und sage: Hier steht Frank Gerholdt. Ein Mensch. Weiter nichts! Nur ein Mensch! Glauben Sie, daß damit alles entschuldbar ist? Ein Mensch! Was gibt es auf dieser Erde nicht, was ein Mensch nicht tun könnte?«
    Der Pfarrer sah auf seine Hände. Es waren alte, faltige Hände, die vierzig Jahre lang gesegnet, die auf den Stirnen Sterbender gelegen hatten und auf den schweißigen Haaren Gebärender. Ein ganzes Leben war in diesen Händen. Er hob sie und legte sie Frank Gerholdt auf den Arm. Dieser zuckte unter der Berührung zusammen.
    »Sprechen Sie«, sagte der Pfarrer leise.
    »Was macht Dr. Werner?« Gerholdt blickte zur Tür. Der Pfarrer schüttelte den Kopf.
    »Er wartet in der Halle. Er wird nicht kommen. Aber es wäre besser, er wäre auch hier und hörte sich alles an.«
    »Nein!« Gerholdt schüttelte energisch den Kopf. »Dr. Werner verkörpert das Gesetz. Er ist die personifizierte Logik. Haben Sie schon einmal ein Leben gesehen, das logisch ist, Herr Pastor? Ein Leben nach der Logarithmentafel? Sie sind ein Mann der Güte, der Liebe, des Verständnisses menschlicher Regungen. Und deshalb will ich Sie allein sprechen, Herr Pastor.«
    Gerholdt schwieg und sah an die Decke. Sie war mit einer gelben Tapete beklebt … verworrene Kreise und abstrakte Flecke zauberte die Nachttischlampe mit ihrem Licht auf das matte Gelb. Der Sterbende nickte mehrmals.
    »Beginnen wir nicht wie ein Lebenslauf«, sagte er sinnend. »Ich wurde am Soundsovielten als Sohn ehrbarer Eltern geboren und besuchte bis zum soundsovielten Lebensjahr … Das ist albern. Sagen wir lieber so: Als ich am 14. September 1932 am Hafen stand, am Becken IV, neben der Fruchthalle der kalifornischen ›Import-GmbH‹, war das Leben scheußlich und gemein. Ich war ein junger Bursche von vierundzwanzig Jahren, hatte Hunger, wunde Hände vom Sisalsackschleppen, keine Bleibe als das Seemannsasyl und wußte nicht, ob ich am nächsten Morgen wieder Arbeit bekam und ein paar Groschen, um mir einen Stockfisch zu kaufen, den ich roh aß … Stück für Stück im Munde mit dem Speichel aufweichend.
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