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Schick einen Gruß, zuweilen durch die Sterne: Eine Geschichte von Liebe und Überleben in Zeiten des Terrors (German Edition)

Schick einen Gruß, zuweilen durch die Sterne: Eine Geschichte von Liebe und Überleben in Zeiten des Terrors (German Edition)

Titel: Schick einen Gruß, zuweilen durch die Sterne: Eine Geschichte von Liebe und Überleben in Zeiten des Terrors (German Edition)
Autoren: Orlando FIGES
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gewonnen hatten, und versuchten, unser Bewusstsein zu formen. Während wir heranwuchsen, mussten wir uns von einigen Aspekten ihrer ziemlich strengen didaktischen Sicht befreien. Kindererziehung ist ein komplizierter Prozess, und man kann schwer sagen, was gut oder schlecht ist.
   Die Hauptsache war, dass unsere Eltern uns immer zuhörten und uns halfen, unsere Fehler zu korrigieren, statt uns zu bestrafen. In unserer Familie herrschte eine Atmosphäre völligen Vertrauens. Wenn jemand etwas sagte, entsprach es der Wahrheit (oder der Betreffende glaubte aufrichtig daran). Das Wort eines Familienangehörigen, auch das von uns Kindern, anzuzweifelnwar undenkbar. Wir hatten nie Angst davor, dass unsere Eltern uns bestrafen oder uns keinen Glauben schenken würden. Aber wir hatten Angst vor ihrem Urteil.
     
    Lew und Sweta sprachen offen mit ihren Kindern über ihre Vergangenheit – ein seltenes Phänomen in Familien, die von den Massenverhaftungen der Stalinzeit erfasst worden waren. Litwinenko und Lilejew zum Beispiel redeten nicht über das Arbeitslager mit ihren Kindern. Wie Millionen ehemaliger Häftlinge wollten sie ihre Angehörigen vor der Wahrheit in Schutz nehmen, das heißt vor dem Stigma ihrer »verdorbenen Biografie«, was zu einer lebenslangen Last werden konnte. Vielleicht wollten sie auch sich selbst vor dem Urteil ihrer Kinder schützen, denen in der Schule der Glaube an »Volksfeinde« eingebläut wurde. Lew und Sweta dagegen meinten, es sei falsch, etwas vor Nikita und Anastasia zu verbergen. Auch wollten sie ihre Kinder auf die Schwierigkeiten vorbereiten, die ihnen bevorstanden. Wie Sweta einst geschrieben hatte, genügte Liebe allein nicht: »Man muss fähig sein … in dieser Welt zu leben, die wahrscheinlich immer grausam sein wird.«
    Als Kind hatte Nikita die Geschichte seiner Eltern für selbstverständlich gehalten. Erst als Teenager begriff er allmählich, wie außergewöhnlich sie war. Allerdings wusste er immer, dass es nicht ratsam war, in der Schule oder außerhalb des vertrauten Kreises von Verwandten und Freunden über die Erfahrungen seiner Eltern zu sprechen. »Von klein auf war mir klar, dass wir zwei unterschiedliche Leben führten – ein öffentliches und ein privates –, die wir irgendwie miteinander verbinden, aber auch voneinander trennen mussten.«
    In erster Linie war es Lew, der auf die Vergangenheit einging. Sweta beschäftigte sich ungern damit. Lew war stolz auf seine Frau und erzählte mit Vorliebe davon, wie sie all die Jahre auf ihn gewartet hatte. Auf diese Weise wollte er die Kinder – die oft mit Swetas schlechter Laune fertig werden mussten, wenn sie müde oder depressiv war – daran erinnern, dass ihre Mutter trotz allem nicht ihresgleichen hatte.
    Außerdem sollten die Kinder gewisse Lektionen lernen. »Mein Vater sprach nicht mit uns über die Gräuel des Gulag«, berichtet Nikita, »aber er versuchte, uns Ratschläge und Leitlinien zu geben, die er durch Beispiele aus seinem Leben in den Lagern veranschaulichte. Der erste Leitsatz lautete, dass man sich nie selbst leidtun dürfe – ein Gebot, das er unterstrich, indem er Mithäftlinge beschrieb, die sich kein einziges Mal beklagt hätten. Das zweite Prinzip war folgendes: Wo immer man sich gerade befindet, und sei dies nur für kurze Zeit, solle man versuchen, so zu leben, als wäre die Situation von Dauer.«
    Nikita und Anastasia hörten auch von den vielen ehemaligen Häftlingen, die ihre Eltern besuchten – ihr Heim stand Freunden aus Petschora jederzeit offen –, Geschichten über die Lager. Die im Gulag geknüpften Verbindungen blieben über die Generationen hinweg bestehen und vereinten Familien überall in der Sowjetunion. Die Mischtschenkos wurden von den Lilejews aufgenommen, wenn sie nach Leningrad fuhren, von den Litwinenkos in Kiew und von den Terlezkis in Lwow. Und all diese Familien kamen als Gäste zu ihnen in die sowjetische Hauptstadt. Nach seiner Entlassung im Alter von 33 Jahren studierte Lilejew am Polytechnischen Institut in Leningrad und wurde dann Lehrer (er ist noch am Leben). Terlezki absolvierte das Kunstinstitut in Lwow und wurde Bildhauer (er starb 1993). Strelkow hielt ebenfalls den Kontakt zu Lew aufrecht und besuchte ihn häufig in Moskau. Nikita hat ihn ähnlich (wenn auch älter) wie auf den Fotos aus Petschora im Gedächtnis: »Er war sehr charmant, voller Energie, hatte weiße Locken und rauchte eine Pfeife.« Strelkow starb 1976.
    Lew schied1990 , im Alter von 72
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