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Schick einen Gruß, zuweilen durch die Sterne: Eine Geschichte von Liebe und Überleben in Zeiten des Terrors (German Edition)

Schick einen Gruß, zuweilen durch die Sterne: Eine Geschichte von Liebe und Überleben in Zeiten des Terrors (German Edition)

Titel: Schick einen Gruß, zuweilen durch die Sterne: Eine Geschichte von Liebe und Überleben in Zeiten des Terrors (German Edition)
Autoren: Orlando FIGES
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kleinen Küche bequem, deren Fenster auf die Betontürme und Fabrikschornsteine von Moskau hinausblickten. Brot, Wurst, Süßigkeiten und Kekse waren für unseren Besuch auf den Resopaltisch gestellt worden. Lew sagte, er habe seinen Enkel losgeschickt, mehr Brot zu kaufen. Er befürchtete, dass seine Vorräte nicht ausreichten – eine Sorge, die ich schon bei früheren Besuchen von Überlebenden der Lager bemerkt hatte.
    Nachdem wir Platz genommen hatten, verkündete Lew, er wolle Swetlana Alexandrowna holen. Es überraschte mich, dass er ihren Namen und Vatersnamen auf diese recht förmliche Art benutzte. Zunächst führte ich es auf seine altmodischen Gepflogenheiten zurück, doch später begriff ich, dass er so seine Verehrung gegenüber der Frau zum Ausdruck brachte, die ihn gerettet hatte. Kurz daraufkam Lew mit Swetlana zurück, die in einem Rollstuhl saß. Er manövrierte sie mit einer Leichtigkeit, die jahrelange Übung und Hingabe verriet, in die Küche. Swetlana war seit Langem krank: Herzbeschwerden und eine Reihe kleiner Schlaganfälle hatten bewirkt, dass sie nicht mehr gehen konnte. Ihr graues Haar und ihre dicken Brillengläser ließen sie sehr alt aussehen, doch als sie zu sprechen begann, war ihre Lebhaftigkeit nicht zu verkennen. Ihre fröhlichen blauen Augen funkelten, wenn sie einen Scherz machte und lächelte.
    Swetlana hatte sich 1972 in den Ruhestand versetzen lassen, und sechs Jahre später waren Lew und sie nach Jassenewo gezogen, damals ein neuer Vorort außerhalb des Metronetzes. Sie wohnten mit ihrer Tochter Anastasia zusammen, die an chronischer bipolarer Depression litt und nicht arbeitsfähig war. Ihr Sohn Nikita, der in der Medizinforschung arbeitete, zog später mit seiner Frau und drei Kindern in dasselbe Gebäude.
    Trotz Lews Befürchtung, er werde »niemals mehr zu einem wissenschaftlichen Forscher werden«, war er in die Welt der Sowjetphysik zurückgekehrt. 1956 trat er ins Laboratorium für kosmische Strahlen ein, das zum Wissenschaftlichen Forschungsinstitut für Kernphysik an der Universität Moskau gehörte. Er erhielt den Posten auf Einladung des neuen Labordirektors Naum Grigorow, seines alten Freundes von der Physikalischen Fakultät aus der Vorkriegszeit. Grigorow hatte Lew dem Lebedew-Physikinstitut im Jahr 1940 empfohlen und ihm Briefe ins Arbeitslager geschickt, obwohl er als Parteimitglied viel zu verlieren hatte. In den folgenden 34 Jahren blieb Lew im Laboratorium für kosmische Strahlen. Er half bei der Entwicklung und Installation der Geräte und zeichnete die Ergebnisse von Experimenten auf. Aber es war zu spät für ihn, sich eine eigene Karriere als Forscher aufzubauen. Zu viele Jahre waren vergangen, seit er im Lebedew-Institut gearbeitet hatte – Jahre, in denen gewaltige Fortschritte auf dem Gebiet subatomarer Partikel gemacht worden waren.
    Lews Lebensschwerpunkt war seine Familie. Es war durchaus ungewöhnlich, wie er sich die Kindererziehung mit Sweta teilte, die Einkäufe besorgte, die Mahlzeiten zubereitete und die Wohnungam Kasarmenny pereulok putzte, wo sie bis zu ihrem Umzug nach Jassenewo blieben. Außerdem pflegte er Alexander Alexejewitsch, der 1962 starb. Sweta war die beherrschende Persönlichkeit des Haushalts und traf die praktischen Alltagsentscheidungen. Aber in wichtigen Angelegenheiten beugte sie sich Lew.
    Sie vertraten die gleichen Ansichten, was die Erziehung ihrer Kinder betraf. Darüber hatten sie sich viele Jahre lang in ihrem Briefwechsel ausgetauscht, und ihre gemeinsamen Werte waren durch ihre Erfahrungen noch deutlicher geworden. Laut Nikita waren sie keine strengen Eltern im üblichen Sinne. »Sie versuchten nicht, unser Verhalten zu kontrollieren«, erklärte er. Die Familie habe sich aber an strikte ethische Grundsätze gehalten:
     
Die moralische Autorität unserer Eltern war wirklich sehr groß. Das führte bei uns zu einer gewissen Selbstbeherrschung: Wir schränkten unsere Wünsche ein und lernten, die Welt ähnlich wie sie zu sehen. Sie erzogen uns durch ihr persönliches Beispiel und dadurch, dass sie offen und respektvoll mit uns redeten. Besonders mein Vater verbrachte so viel Zeit mit uns, wie er konnte. Er erzählte uns Geschichten aus seinem Leben und beurteilte das Benehmen von Menschen nach den damaligen Umständen.
   Wenn ich heute auf ihren Einfluss zurückblicke, würde ich sagen, er war eindeutig positiv, obwohl sie uns in gewissem Maße die Werte auferlegten, die sie aus ihrer eigenen Erfahrung
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