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Schick einen Gruß, zuweilen durch die Sterne: Eine Geschichte von Liebe und Überleben in Zeiten des Terrors (German Edition)

Schick einen Gruß, zuweilen durch die Sterne: Eine Geschichte von Liebe und Überleben in Zeiten des Terrors (German Edition)

Titel: Schick einen Gruß, zuweilen durch die Sterne: Eine Geschichte von Liebe und Überleben in Zeiten des Terrors (German Edition)
Autoren: Orlando FIGES
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ihre gesamte Korrespondenz zensiert wurde. Es war schwierig, eine intime Beziehung aufrechtzuerhalten, wenn die Polizei als Erste jedes Wort las. Eine Verurteilung zu acht oder zehn Jahren hatte fast immer zur Folge, dass enge Verbindungen abgebrochen wurden; oft verloren Häftlinge Freundinnen, Ehepartner und ganze Familien. Lew und Swetlana bildeten eine Ausnahme. Sie fanden nicht nur einen Weg, einander zu schreiben und sich sogar illegal zu treffen – ein eklatanter Verstoß gegen die Gulagvorschriften, der eine schwere Bestrafung nach sich gezogen hätte –, sondern sie bewahrten auch jeden kostbaren Brief als Beleg für ihre Liebesgeschichte auf (wodurch sie ein noch größeres Risiko eingingen).
    Wie sich herausstellte, enthielt die kleinste Truhe 1500 Briefe. Es dauerte mehr als zwei Jahre, alle abzuschreiben. Sie waren schwer zu entziffern, voll von Codewörtern, Details und Initialen, die geklärt werden mussten. Sie bilden die dokumentarische Grundlage von Schick einen Gruß, das auch das umfangreiche Archiv in den anderen Truhen, ausführliche Interviews mit Lew und Swetlana, ihren Verwandten und Freunden, die Schriften anderer Häftlinge in Petschora, Ortsbesuche und Interviews mit seinen Bewohnern sowie die Archive des Arbeitslagers selbst heranzieht.

1
     
    Lew sah Swetlana zuerst. Er bemerkte sie sofort in der Menge der Studenten, die in dem von Bäumen gesäumten Innenhof der Moskauer Universität darauf warteten, zur Aufnahmeprüfung gerufen zu werden. Sie stand mit einem von Lews Freunden am Eingang zur Physikalischen Fakultät. Der Freund winkte Lew heran und stellte sie als Klassenkameradin aus seiner früheren Schule vor. Die beiden tauschten nur ein paar Worte aus, bevor sich die Türen zur Fakultät öffneten und sie sich dem Gewühl der Studenten auf der Treppe zu dem Saal, wo die Prüfung stattfinden würde, anschlossen.
    Es war keine Liebe auf den ersten Blick – darin sind sich beide einig. Lew war viel zu vorsichtig, um sich so leicht zu verlieben, doch Swetlana hatte bereits seine Aufmerksamkeit geweckt. Sie war von mittlerer Größe, schlank, mit dichtem braunem Haar, hohen Wangenknochen, einem spitzen Kinn und blauen Augen, aus denen Intelligenz und eine gewisse Traurigkeit sprachen. Als eine von nur einem halben Dutzend Frauen wurde sie zusammen mit Lew und dreißig weiteren Männern im September 1935 von der Fakultät, der besten dieses Fachgebiets in der Sowjetunion, aufgenommen. Mit ihrem dunklen Wollhemd, ihrem kurzen grauen Rock und ihren schwarzen Wildlederschuhen – der Kleidung, die sie bereits als Schulmädchen getragen hatte – hob Swetlana sich von der maskulinen Umgebung ab. Sie hatte eine schöne Stimme (später sollte sie im Universitätschor singen), die ihre Attraktivität verstärkte, war beliebt, lebhaft, konnte manchmal kokett sein und war bekannt für ihre scharfe Zunge. Swetlana fehlte es nicht an Bewunderern, doch Lew hatte etwas Besonderes an sich. Er war weder groß noch muskulös – ein wenig kleiner als sie – noch wie andere junge Männer seines Alters von seinem guten Aussehen überzeugt. Auf allen damaligen Fotos trug er das gleiche alte Hemd, oben zugeknöpft und nach russischer Art ohne Krawatte. Seiner Erscheinungnach glich er immer noch eher einem Jungen als einem Mann; sein Gesicht war freundlich und zart, er hatte sanfte blaue Augen und volle Lippen wie ein Mädchen.
     

     
    Während ihres ersten Semesters kamen Lew und Sweta (wie er sie nun nannte 1 ) häufig zusammen. Sie saßen in Vorlesungen nebeneinander, nickten sich in der Bibliothek zu und bewegten sich im selben Kreis angehender Physiker und Ingenieure, die zusammen in der Kantine aßen oder sich im »Studentenclub« am Eingang zur Bibliothek trafen, wo manche eine Zigarette rauchten und andere sich einfach nur die Beine vertraten und plauderten.
     

     
    Später gingen Lew und Sweta zuweilen mit einer Gruppe von Freunden ins Theater oder ins Kino. Danach begleitete er sie auf dem romantischen Heimweg, der an den Gartenalleen entlang vom Puschkin-Platz zur Pokrowski-Kaserne in der Nähe von SwetasWohnung führte. Hier promenierten Liebespaare am Abend. In den Studentenkreisen der dreißiger Jahre umwarb man seine Angebetete weiterhin nach den Regeln der romantischen Ritterlichkeit, obwohl sich das sexuelle Verhalten nach 1917 hier und dort liberalisiert hatte. An der Moskauer Universität waren Romanzen ernst und keusch. Sie begannen gewöhnlich damit, dass sich ein Paar von
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