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Scherbenparadies

Scherbenparadies

Titel: Scherbenparadies
Autoren: Inge Loehnig
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Rest Marmelade aus dem Glas, strich ihn zwischen die beiden letzten Scheiben Knäckebrot und gab sie Vanessa zur Pause mit. Ihr eigenes Frühstück bestand aus einer Tasse Tee.
    Inzwischen war es Anfang November geworden. Gestern war der erste Schnee gefallen. Als dünne Schicht lag er auf Dächern und Grünanlagen, als brauner Matsch auf Straßen und Gehwegen. Der Himmel war bleigrau, die Luft schneidend kalt. Sandra fror, als sie mit Vanessa an der Hand das Haus verließ. Sie trug ihre Chucks, durch die Kälte und Nässe drangen. Andere Schuhe besaß sie nicht. Die Jeansjacke war zu dünn, deshalb hatte sie zwei T-Shirts und einen Pulli angezogen und den Schal um den Hals gewickelt. Nachdem sie Vanessa in der Grundschule abgeliefert hatte, machte sie sich auf den Weg zur Realschule. Kurz bevor sie dort ankam, zog sie mit klammen Fingern ihr Handy hervor und wählte Lauras Nummer. Wieder einmal ging nur die Mailbox an. Resigniert legte Sandra auf. Sie fühlte sich leer und müde, als wäre sie siebzig und nicht siebzehn. Der Hunger saß als dumpfer Schmerz im Magen. Weshalb machte sie ihre Drohung nicht endlich wahr? Weshalb informierte sie das Jugendamt nicht? Dort würde man ihnen helfen. Sandra steckte das Handy wieder ein. Sie kannte die Antwort. Oft genug hatte sie diese Gedanken gewälzt.
    Natürlich würde man ihnen helfen, würde dafür sorgen, dass sie zu essen bekamen und warme Klamotten. Aber man würde sie nicht mit ihrer Schwester allein leben lassen. Sie war nicht volljährig. Man würde sie trennen, Vanessa in ein Heim stecken und sie in eine Pflegefamilie oder, was wahrscheinlicher war, in eine vom Jugendamt betreute WG. Sie hatte das gegoogelt.
    Vanessa brauchte sie. Und sie brauchte Vanessa. Sie war ihre Familie – alles, was davon geblieben war. Vanessa kam ja schon jetzt kaum damit zurecht, dass Laura sie im Stich ließ, wenn nun auch noch ihre große Schwester aus ihrem Leben verschwand… Bei dem Gedanken, wie sich ihre kleine Schwester dann fühlen würde, wurde Sandra schlecht. Nein, sie würde Vanessa nicht allein lassen und auch ihre Mutter nicht verraten. Was irgendwie völlig idiotisch war. Aber bei der Vorstellung, Laura vor dieser Tussi beim Jugendamt als Rabenmutter zu outen, drehte sich ihr der Magen erst recht um. Total bescheuert. Schwachsinniger Familiensinn. Denn wenn sie etwas nicht waren, dann eine Familie. Und doch zwang eine merkwürdige Kraft Sandra, sich schützend vor Laura zu stellen. Sie war ihre Mutter. Ohne sie gäbe es mich nicht, dachte Sandra, und irgendwann hat Laura uns auch mal geliebt. Was lief nur falsch in ihrem Leben?
    Vor der Schule herrschte Gedränge. Es wurde geraucht, gequatscht und telefoniert. Ein Pärchen knutschte unter der kahlen Kastanie. Patrick kam mit seinem Roller angebraust und parkte neben dem Haupteingang. Hinter ihm saß Alina. Sie winkte Sandra zu und nahm den Helm ab. »Na, alles klar mit Hauke Haien?«
    Sandra nickte. Das Referat hatte sie perfekt vorbereitet. Die Eins war ihr so gut wie sicher.
    Alinas Blick glitt an Sandra hinab, blieb ungläubig an den feuchten Chucks hängen und wanderte zurück zur Jeansjacke. Bevor sie etwas sagen konnte, wandte Sandra sich ab. Alina trug natürlich kniehohe Lederstiefel, eine schicke weiße Steppjacke und S.Oliver-Jeans. Für einen Moment spürte Sandra so etwas wie Neid, schob das Gefühl aber sofort beiseite und versuchte, sich auf das Referat einzustimmen.
    Als sie das Klassenzimmer erreichte, holte Alina sie ein. »Alles in Ordnung?«
    Ein Schulterzucken war Sandras Antwort. »Klar.«
    »Also, sei mir nicht böse, du siehst käsig aus, hast Ringe unter den Augen wie Amy Winehouse und außerdem hast du weiter abgenommen. Ist wirklich alles okay?«
    Einen Moment geriet Sandra in Versuchung, Alina zu sagen, was los war. Sie war ihre Freundin und sie war die Einzige, die bemerkte, dass sie sich veränderte, dass etwas schieflief… aber sie hatte auch so eine furchtbare soziale Ader… sie würde Sandras Geheimnis ganz bestimmt nicht für sich behalten. Vermutlich würde sie mit ihren Eltern darüber reden… und Alinas Mutter war ausgerechnet Sozialpädagogin… Nein! Wenn sie sich Alina anvertraute… das würde eine Lawine in Gang setzen. Sandra atmete durch, straffte die Schultern und zwang sich zu einem Lächeln. »Das Referat hat mich ein bisschen gestresst. Ich bin erst letzte Nacht damit fertig geworden.«
    Stühle wurden gerückt, das Klassenzimmer füllte sich. Es roch nach feuchten
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