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Schattenwelten

Schattenwelten

Titel: Schattenwelten
Autoren: Fran Henz
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Gegenleistung zu verlangen, so wie es die Überlieferung besagt.“
    Er fühlte sich wie betäubt.
    „ Ich vermisse sie“, seufzte Nadescha.
    „ Was weißt du noch?“, fragte er und hörte selbst, wie heiser seine Stimme klang. „Weißt du, wie man einen Vampir erschafft?“
    „ Ja, natürlich“, antwortete sie, als hätte er sie nach der Farbe ihres Haares gefragt. „Wenn ich es dir sage ... machst du mich dann zu einem Vampir?“
    Er sah in ihr vertrauensvoll zu ihm erhobenes Gesicht. Die runde Stirn, die geröteten Wangen, die kleine rote Nasenspitze. Ihre Frage flutete in ihn, durchtränkte jede Faser seines Seins.
    Es war da. Das, wonach er solange gesucht hatte, lag zum Greifen nah vor ihm. Endlich hatte seine Einsamkeit ein Ende. Gefährten, eine Familie ...
    Noch immer ruhte sein Blick auf ihrem Gesicht und in diesem Moment begriff er eine weitere Wahrheit. Er konnte sie nicht zum Vampir machen. Nicht sie und auch niemand anderen. Die Gier nach Blut, die Gier zu jagen, die Gier zu töten, die ewige Verdammnis, die am Ende des Weges wartete. Er wusste, was das alles bedeutete, er hatte es am eigenen Leib verspürt und nicht einmal seinem ärgsten Feind würde er ein solches Dasein wünschen. Er schuf kein neues Leben, er verdammte dazu, nicht zu leben und nicht zu sterben.
    „ Nein, Nadescha, ich werde dich nicht zum Vampir machen. Und ich will auch gar nichts darüber wissen.“
    Sie betrachtete ihn nachdenklich. „Dann bleibe ich bei dir, bis die Sonne aufgeht.“
    „ Nadescha, das könnte gefährlich für dich sein, ich weiß nicht, was passieren wird.“
    Sie kuschelte sich wortlos an ihn. Selbst durch seinen Mantel und die dicke Wolldecke spürte er ihre Wärme und die regelmäßigen Atemzüge. Die Sehnsucht, die er am Fenster empfunden hatte, kehrte zurück. Er hatte nie ein Kind gehabt, niemals eine Frau mit all seiner Seele geliebt.
    Vögel begannen zu zwitschern. Der letzte Sonnenaufgang seines Lebens. Am Horizont tauchte die Sonnenscheibe auf, blass, nicht rot, wie er erwartet hatte. Sie stieg höher, ihre Strahlen wanderten über den Schnee. Zuerst würden sie seine Stiefel und die ausgestreckten Beine erreichen, zuletzt seinen durch den Schatten des Baumes geschützten Kopf. Er fragte sich, ob er explodieren würde, wenn ihn die Sonne berührte, oder ob er von den Füßen bis zum Kopf langsam verbrennen würde.
    Die Sonne leckte an seinen Stiefelspitzen und er explodierte nicht. Sie wanderte weiter über seine Waden, seine Knie, seine Schenkel und er brannte noch immer nicht. Erst als er vor Spannung den Atem anhielt, merkte er, dass er atmete. Fassungslos und ungläubig lauschte er dem Schlagen seines Herzens, das so laut war, dass es ihn fast taub machte.
    „ Nadescha“, rief er und blickte sich suchend um, aber das Mädchen war samt der Decke verschwunden.
    Tränen strömten über seine Wangen. Sie hatte ihn erlöst. Das kleine Mädchen mit dem reinen Herzen hatte ihm ein neues Leben geschenkt.
    Durch den Tränenschleier sah er einen Mann auf sich zukommen. Er blinzelte.
    „ Na, Brüderchen, noch immer am Leben?“ Der Pope klimperte mit einem Schlüsselbund und begann am Schloss, das die Ketten zusammenhielt, zu hantieren. „Darfst es ihnen nicht übel nehmen, Brüderchen. Der viele Wodka, die alten Geschichten. Es ist einfacher an Dämonen zu glauben als sich einzugestehen, dass sich die Wölfe so nahe an die Siedlung wagen.“
    Juri schwieg, was sollte er auch sagen? Er rieb seine Arme unter dem dünnen Mantel. Ihm fröstelte und er biss sich auf die Lippen, um nicht zu lachen. Er war ein Mensch. Er war wirklich ein Mensch.
    „ Väterchen, kann ich Nadescha sehen? Ich möchte mich verabschieden.“ Und bedanken, fügte er unhörbar hinzu.
    „ Natürlich, komm mit, Brüderchen.“
    Sie stapften durch den Schnee zum Haus hinüber. Juris Atem bauschte sich wie eine Wolke vor seinem Mund. Glücklich blies er die Luft durch die Nase und schnaubte dabei wie ein Pferd. Sein Begleiter warf ihm einen Blick zu, schwieg aber.
    Ein Lakai öffnete die Tür und Juri machte frohgemut einen Satz über die Türschwelle. Der Pope stieg vor ihm die Treppe hinauf. „Wenn man bedenkt, wie knapp du sie dem Tode entrissen hast ...“, die oberste Stufe knarrte unter seinem Stiefel. Er öffnete eine Tür, „... dann ist es schon erschütternd, dass sie ausgerechnet hier, geborgen im Schoß ihrer Familie, gestorben ist.“
    Juri drängte ihn zur Seite. Nadescha lag auf dem Bett, ihr blondes Haar
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