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Schattenwelten

Schattenwelten

Titel: Schattenwelten
Autoren: Fran Henz
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In den Wäldern von St. Petersburg, Winter 1810
     
    Der Schnee warf das Mondlicht zurück und tauchte die Wälder in gespenstische Helligkeit. Es war so kalt, dass der Atem an den Brauen gefror. Doch der Mann, der diese Wälder durchstreifte, hatte vor über hundert Jahren aufgehört zu atmen und die Kälte in seinem Inneren überstieg die Kälte der Nacht bei weitem.
    Er war auf der Jagd. Die Witterung nach Blut hing in der Luft und trieb ihn vorwärts, bis er die umgestürzte Kutsche fand, die quer auf dem Waldweg lag. Ein Rudel Wölfe wogte um das Gefährt wie ein dunkles Meer.
    Der Geruch nach Blut war jetzt so stark, dass ihm vor Gier schwindelte. Die dampfenden Gedärme in den aufgerissenen Leibern der Pferde zeugten davon, dass das Massaker erst begonnen hatte. Ohne zu zögern ging er weiter und die Wölfe wichen vor ihm zurück, pressten sich flach in den Schnee und fletschten die Zähne. Er achtete nicht auf sie, sondern kniete sich neben einer der ausgestreckten Gestalten nieder. Ein Bein zerrten die Wölfe bereits eilig über den Schnee, am anderen machten sich drei weitere von ihnen zu schaffen, doch die Haut unter dem dicken Pelzmantel war noch warm.
    Der Mann beugte sich vor, sein Gesicht verwandelte sich im Bruchteil einer Sekunde in eine Raubtierfratze und seine Reißzähne gruben sich in die Kehle des Toten. Er trank durstig und versuchte gleichzeitig, jeden Tropfen voll auszukosten. Menschenblut war für ihn zu einer seltenen Delikatesse geworden und er wusste die Gelegenheit zu schätzen.
    Als er den Körper leergetrunken hatte, sah er sich um. Eine weitere Gestalt lag neben der Kutsche und mit wenigen Schritten war er bei ihr. Die Wölfe, die an ihr zerrten, legten die Ohren an den Kopf und knurrten. Mit einer Handbewegung packte er den größten Wolf und schleuderte ihn zur Seite, wo er winselnd liegen blieb. Die anderen Tiere duckten sich in den Schnee und verfolgten mit gelben Augen alles, was er tat.
    Diesmal trank er langsamer, genussvoller, die erste Gier war gestillt und für einen wunderbaren Moment spürte er, wie das warme Blut ihn selbst mit Wärme erfüllte. Aber er wusste, dass dieses Gefühl nicht von Dauer war. Er hob den Kopf und blickte zu den Wölfen, die langsam näher kamen. Der armselige Überrest der Beute gehörten den Jägern, die sie erlegt hatten.
    Er fuhr sich mit der Hand über den Mund, um das Blut wegzuwischen, hielt aber mitten in der Bewegung inne. Neben der Kutsche stand ein kleines Mädchen und blickte zu ihm herüber. Ein bodenlanger dunkler Pelzmantel hüllte die Gestalt ein, unter der Kapuze lugten einige blonde Löckchen hervor.
    Einen Moment lang verharrte er unbeweglich. Ertappt – und unschlüssig, was er tun sollte. Dann sah er aus den Augenwinkeln, wie eine Gruppe Wölfe sich vom Rudel absonderte und auf das Mädchen zuschlich.
    Mit einem Satz überbrückte er die Distanz und stellte sich schützend vor sie. Die Wölfe senkten die Köpfe, wiegten sich abwartend und zogen sich schließlich zurück. Er drehte sich um und ging in die Hocke. Große blaue Augen blickten ihn ohne das geringste Anzeichen von Furcht an.
    „ Weißt du ...“, er musste sich räuspern, „... weißt du, was ich bin?“
    Sie nickte. „Ein Vampir“, sagte sie dann ruhig als wäre es das Selbstverständlichste auf der Welt.
    Eine wahnwitzige Hoffung stieg in ihm auf und er streckte die Hand aus, um die Wange des Mädchens zu berühren. Vielleicht hatte er jetzt ... endlich ... nach all den Jahren ein Geschöpf gefunden, das so war wie er.
    Die Haut unter seinen Fingern fühlte sich weich an. Und warm. Enttäuscht ließ er die Hand sinken.
    „ Wie heißt du?“
    „ Nadescha. Und du?“
    Ihre Unbekümmertheit verwirrte ihn. „Juri.“ Er machte eine vage Handbewegung. „Die beiden ... deine Eltern?“
    Sie schüttelte den Kopf. „Meine Eltern sind tot. Seit drei Monaten. Die schwarzen Blattern haben sie getötet. Darum holt mich Onkel Alexej zu sich.“ Sie sah über seine Schulter zu den verstümmelten Leichen, an denen sich die Wölfe weiter gütlich taten. „Meine Gouvernante und mein Hauslehrer, sie sollten mich begleiten. Es ist ein weiter Weg von Wien nach St. Petersburg.“
    „ Wien?“, wiederholte er, im Versuch, ihren Gedankensprüngen zu folgen.
    „ Mein Vater arbeitete für den russischen Gesandten am Kaiserhof.“
    Er nickte. „Dein Onkel Alexej, ist das Alexej Kanzanow? Besitzt er ein Sägewerk?“
    „ Ja, zwanzig Werst von St. Petersburg. Kennst du
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