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Schattenwelten

Schattenwelten

Titel: Schattenwelten
Autoren: Fran Henz
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ihn?
    „ Ich werde dich zu ihm bringen“, antwortete er ausweichend und hob sie auf seine Arme. „Es ist nicht mehr weit.“
    Während er durch den Schnee stapfte, dachte er daran, dass er einem Mädchen das Leben rettete, dessen Ur-Ur-Ur-Großvater sein erstes Opfer gewesen war. Früher hätte er über eine solche Ironie gelacht, heute war er froh, etwas von seiner Schuld abtragen zu können.
    Vasili Kanzanow war sein Herr gewesen. Juris ganze Familie gehörte ihm, so wie ihm noch Dutzende anderer Familien gehörten. Kanzanow kümmerte sich nicht um das Wohlergehen seiner Leibeigenen, für ihn war nur wichtig, dass der Boden genug abwarf, damit er in St. Petersburg ein Leben in Saus und Braus führen konnte. Krankheiten, Unwetter, Viehsterben – die daraus entstandenen Einbußen pflegte er nicht mit Verständnis, sondern mit der Peitsche zur Kenntnis zu nehmen. Die Unterkünfte seiner Leibeigenen waren baufällige, feuchte Verschläge. Selten wurde einer der Bewohner älter als dreißig.
    Juri war zweiundzwanzig Jahre alt gewesen – drei seiner Schwestern waren bereits einen frühen, unnötigen Tod gestorben – als Oxana mit ihren Gefährten über sein Dorf herfiel. Sie töteten auch ihn, den Menschen Juri, aber im Gegensatz zu den anderen Opfern machten sie ihn aus unerfindlichen Gründen zu einem der ihren.
    Sein erster Weg als Vampir führte ihn zu Kanzanow. Kein Türschloss war seiner übermenschlichen Stärke gewachsen, kein Diener wagte es, sich dem Wesen mit dem Raubtiergesicht entgegenzustellen. Er hatte Kanzanow mit einer Hand hochgehoben und ihm mit der anderen die Kehle herausgerissen. Das Blut strömte aus ihm, und Juri sah zu. Er konnte nicht trinken, weil sein Ekel vor diesem Mann größer war als der Durst. So verschwendete er einfach dessen Blut, wie Kanzanow das Leben unzähliger Menschen verschwendet hatte.
    Dann war er zurückgekehrt zu Oxana, war mit ihr und seiner neuen Familie weitergezogen. Seine Nächte verwandelten sich in einen Rausch aus Blut und Gewalt und Wollust. Sie lebten wie Tiere, getrieben vom Instinkt zur Jagd und zur Paarung. Er spürte, welche Macht er besaß, wenn seine Opfer sich wanden und um ihr Leben flehten. Er spürte, wie es ihn erregte, diese Macht zu gebrauchen. Wieder und wieder.
    Dann war es vorbei, von einem Tag auf den anderen. Sie hatten in einer Stadt am Schwarzen Meer gejagt, er vergaß die Zeit und musste sich vor der aufgehenden Sonne verstecken. Als Juri abends in den gemeinsamen Unterschlupf zurückkehrte, war nichts mehr da als Asche. Ein Unbekannter hatte seine gesamte Familie ausgelöscht und er verdankte sein Leben nur einem dummen Zufall.
    Nach einer Weile überwand er seinen Schmerz und machte sich auf die Suche nach anderen Vampiren. Aber so verzweifelt er auch forschte, er fand sie nicht. Er hörte Gerüchte, folgte Fährten, doch es gelang ihm nicht, ein anderes Wesen aufzuspüren, das so war wie er. Und jedes Mal, wenn er seine Zähne in die Halsschlagader eines Menschen grub, überkam ihn die bittere Erkenntnis, dass ihm seine Familie die wichtigste Wahrheit vorenthalten hatte: wie man einen anderen Vampir schuf.
    In den Jahren, die folgten, durchstreifte er den Kontinent, suchte Rat bei Schamanen und Derwischen, stöberte in Büchern und vergilbten Schriftrollen. Aber er fand weder einen anderen Vampir noch einen Hinweis darauf, wie er einen erschaffen konnte. Irgendwann war er hierher zurückgekehrt, an die Stätte seiner zweifachen Geburt, in der verrückten Hoffnung, dass sie zu ihm kommen würden, wenn er aufhörte, ihnen nachzujagen.
    Diese Suche, die immer mit einem längeren Aufenthalt an demselben Ort verbunden war, hatte zwangsläufig auch seine Gewohnheiten geändert. Er konnte nicht mehr nach Belieben töten, weil er dadurch in Gefahr lief, entlarvt zu werden. In weiterer Folge entdeckte er, wie viel Blut genau nötig war, um am Leben zu bleiben; dass das Blut von Tieren dieselbe Wirkung hatte wie das von Menschen, obwohl es weit weniger schmackhaft war. Und er entdeckte auch, dass ihm diese Art zu leben besser gefiel als die ständige Menschenjagd. Mittlerweile verachtete er sich für seine früheren Taten, und empfand sein Gedächtnis, das kein Vergessen kannte, als Strafe für die begangenen Morde.
    Er brauchte nur die Augen zu schließen und schon flammten die Gräuel, die er angerichtet hatte, in düsteren Farben vor ihm auf. Ihretwegen würde er im tiefsten Schlund der Hölle enden. Daran zweifelte er nicht.
    Sie waren beim
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